Schneeflockenbaum (epub)
am selben Freitagnachmittag noch die Solex-Werkstatt betrat und Jouri wieder herbeieilte, sagte ich also feierlich: »Sie hat mir verboten, es weiterzusagen, aber wir haben uns geküsst.«
Er sah mich an, als wollte er mir mit einem Statorflansch zu Leibe rücken. Um seine Wut ein wenig zu mildern, fügte ich hinzu: »Es war irgendwie unheimlich.«
»Was du nicht sagst«, zischte er entrüstet.
Wie lange es danach gedauert hat, bis sie auch ihn dort hinten im Garten geküsst hat, haben die beiden mir nie verraten. Sowohl Jouri als auch Frederica haben vor mir immer sorgsam verschwiegen, wie sie während der Weihnachtsferien ein Paar geworden sind. Offenbar wollten sie meine Gefühle nicht verletzen. Dennoch tat es erstaunlich weh, als ich bemerkte, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Mein ganzer Prestigegewinn bei den Ostseerabauken schmolz augenblicklich dahin. Doch das war nicht das Schlimmste; das Schlimmste war zu wissen, dass sie fortan Jouris Wangen streicheln und ihm »Lieber, lieber Junge« zuflüstern würde, meinem Freund Jouri, der mich, wohlgemerkt, vor ihr gewarnt hatte.
Nach den Weihnachtsferien kam sie noch ein einziges Mal am Mittwochnachmittag in die Bibliothek. Großzügig sagte sie: »Du bist immer herzlich willkommen, wenn du bei meinem Bruder Platten hören willst.«
Ligusterhecken
W ir machten Abitur. Wir lasen eine Broschüre mit dem Titel Nach dem Abitur studieren? . Das war eine Frage, auf die wir bereits eine Antwort wussten. Jouri und ich wollten nichts lieber als das. Aber wo und was? Die Grobiane machten sich endgültig auf zu den schwedischen Mädchen. Viele andere Klassenkameraden blieben in der Nähe ihres Elternhauses. Sie gingen zur Technischen Universität in Delft. Jouri und ich waren die Einzigen, die in Leiden studieren wollten. Der hochbegabte Jouri liebäugelte natürlich mit Mathematik und Physik. Ich fand, dafür sei ich nicht schlau genug, und weil ich schon seit frühester Kindheit von Schlamm und Blutegeln, Rückenschwimmern und Wasserstabwanzen, kurzum: von allem, was in Tümpel und Graben herumschwamm und herumkroch, fasziniert war, entschied ich mich für Biologie.
Nach dem Abitur im Frühsommer tat sich ein riesiges Zeitloch von vier Monaten auf. Die Vorlesungen in Leiden begannen erst am 3. Oktober. Während dieser vier Sommermonate nahm Frederica den sich nur halbherzig wehrenden Jouri voll und ganz in die Zange. Im Nachhinein kommt es mir so vor, als wäre ich an den mondlosen Abenden jener Sommermonate ebenso zwanghaft wie niedergeschlagen hinter Frederica und Jouri her über die Westhavenkade und den Maasboulevard geschlendert. Was sich in der Erinnerung an diesen Kummer um den Verlust meines Mädchens, das ich – um mit Simon Vestdijk zu sprechen – »nie besessen hatte«, immer wieder nach vorne drängt, ist der scharfe Duft der vielen Ligusterhecken, an denen wir am frühen Abend auf dem Weg zum Maasboulevard vorbeispazierten. Wenn ich im Sommer den scharfen Duft von Liguster wahrnehme, dann schlendere ich wieder über den Maasboulevard, obwohl es gerade dort, glaube ich, kaum Ligusterhecken gibt. Der Wind kommt vom Meer her und lässt meine Augen tränen. Durch die Tränen hindurch sehe ich die tanzenden Lichter am anderen Ufer des Flusses. Das ewige Licht über der Ölraffinerie in Pernis stöhnt und ächzt. Auf dem Nieuwe Waterweg flattern weiße Laken an den mittschiffs gespannten Wäscheleinen auf den Binnenschiffen, die in Ufernähe vorbeigleiten.
Es ist, als würden die Abende im Rückblick zu einem einzigen erstaunlich langen Sommerabend verschmelzen, der wie ein Film vor meinem inneren Auge abläuft. Was ich damals, weil ich mich so elend fühlte, nicht bemerkte, sehe ich im Rückblick haargenau vor mir: einsame Mädchen auf verwitterten Bänken am Maasboulevard, die mich schüchtern anstarren, in den Augen sowohl Angst als auch Sehnsucht. Sie fürchten, dass ich mich neben sie setzen könnte, und zugleich wünschen sie nichts mehr. Ein Filmmädchen sitzt da und schluchzt leise; einem anderen, ein Stück weiter, kullern geräuschlos Tränen über die Wangen, und an mir gehen zwei gut gekleidete Herren mit Hut vorbei, die, wie ich heute annehme (damals habe ich sie kaum bemerkt), auf dem Weg von einem Hausbesuch zu Nächsten sind, Presbyter also, und der eine sagt: »Lass Gerrit van Eersel auf der Orgel der Pniëlkirche ruhig machen«, und der andere erwidert: »Nein, wir sollten seinen Bruder Kees holen, der ist noch viel besser.«
Warum
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