Schneeflockenbaum (epub)
trieb ich mich dort bloß herum? Was brachte mich dazu, Frederica und Jouri heimlich zu folgen, was sag ich, mich regelrecht wie ein Stalker an ihre Fersen zu heften. Im Nachhinein kann man es mir nicht vorwerfen, dass ich mich allabendlich mit dem Fahrrad nach Vlaardingen begab. Fredericas Bruder war ein typischer Liebhaber klassischer Musik, der sich vorzugsweise den ganzen Abend lang Schallplatten anhörte, möglichst in Gesellschaft von Gleichgesinnten. Ich war ihm also immer willkommen. Doch wenn ich bei George war, entging es mir nie – und das einmal sogar inmitten der Gewalt von Sibelius’ Zweiter Symphonie –, wenn Frederica und Jouri das Haus verließen, um noch einen kleinen Spaziergang über den Maasboulevard zu machen. Und dann wollte ich hinter den beiden her, dann wollte ich jedes Mal bestätigt sehen, dass Jouri sich immer ein wenig wehrte, wenn sie ihn zwischen den blühenden Ligusterhecken innig an sich drückte. Meistens fiel mir eine Ausrede ein, und wenn nicht, dann sagte ich einfach zu George: »Ich muss jetzt leider gehen«, und folgte den beiden in entsprechendem Abstand die Ligusterhecken entlang.
Jouri ist ihrer längst müde, dachte ich dann, genauso wie er auch von Ansje, Ria, Wilma und all den anderen bald die Nase voll hatte. Wahrscheinlich wollte er Frederica nur unbewusst von mir weglocken, so wie er auch Ansje, Ria und Wilma von mir weggelockt hatte. Schon sehr bald würde er mit Frederica Schluss machen.
Wenn ich zu dieser Folgerung kam, war es, als versengte mich der Duft des Ligusters, denn ich wusste genau, dass Frederica mir, auch wenn Jouri mit ihr Schluss machte, nie wieder hinten im Garten den Unterschied zwischen einem Kuss und einem Dauerbrenner erklären würde. Dann murmelte ich einige Zeilen aus einem Gedicht von Theodor Storm: »Und wieviel Stunden dir und mir gegeben, wir werden keine mehr zusammen leben«, und mir kullerten ebensolche Tränen über die Wangen wie dem Mädchen auf der Bank. Manchmal gelang es mir dennoch, mich zu ermannen, und dann summte ich die übermütige, wunderbare Trostmusik von Mozart, die Neunundzwanzigste , sodass ich heute, wenn ich diese Musik erneut höre, augenblicklich wieder an den Ligusterhecken entlanggehe und mich darüber wundere, dass ich einmal im Leben so viel Trauer um etwas empfinden konnte, was im Nachhinein ein Hirngespinst gewesen zu sein scheint. Oder verhält es sich andersherum, bin ich inzwischen so alt und abgestumpft, dass ich nicht mehr fähig bin, wegen einer verlorenen Liebe zu leiden?
Otter
W ährend der Ligusterzeit fasste ich einen Entschluss. In Leiden würde ich Distanz wahren. Schwer sollte mir das nicht fallen, denn schließlich studierten Jouri und ich unterschiedliche Fächer. Jetzt reichte es. Mein bester Freund, aber gleichzeitig ... immer wieder archimedisches Balzverhalten!
Aber das war leicht gesagt, denn wenn ich ihn sah, schmolz meine ganze Entrüstung sofort dahin. Dann neigte sich, wie die Bibel sagt, mein Herz ihm nach, so wie sich mein Herz immer, ganz selbstverständlich, nach ihm geneigt hatte, trotz Ansje, Ria, Wilma und Frederica.
Wie herrlich war es außerdem, während der sonnendurchfluteten Erstsemestertage im September mit einem Vertrauten durch das unbekannte Leiden zu streifen und in einer Jugendherberge zu übernachten. Es war auch sehr beruhigend, gemeinsam Zimmer zu suchen. Bei der studentischen Wohnungsvermittlung bekamen wir eine Liste mit Adressen. Zuerst fuhren wir in den Hogewoerd. Nachdem wir geklingelt hatten, öffnete eine mürrische Person die Tür und führte uns über eine schmutzige Treppe in ein im Hinterhaus gelegenes Souterrain mit niedriger Decke. Ein Fenster bot Aussicht auf das kabbelige, trübe Wasser des Nieuwe Rijn. Neben dem Fenster war im Halbdunkel eine Tür zu erkennen.
»Wohin führt die?«, wollte ich wissen.
Der Zimmerwirt antwortete nicht, sondern stieß die Tür auf. Gleich dahinter, knapp über dem Wasser, war undeutlich ein kleiner Steg zu sehen. »Da kannst du im Sommer ein Sonnenbad nehmen.«
»Oh, wie herrlich«, sagte ich, »hier könnte man problemlos einen Otter halten.«
»Haustiere sind verboten«, sagte der Mann.
»Ach, ein Otter, das kann doch kein Problem sein. Tagsüber ist er unterwegs und schwimmt umher. Wenn er will, kann er auf dem Steg übernachten, und ganz selten kommt er schüchtern ins Haus. Otter sind so wunderbare Tiere, im Mittelalter waren sie die beliebtesten Haustiere. Sie bereiten mehr Freude und weniger Arbeit
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