Schneeflockenbaum (epub)
hinweg in den Saal ergoss, streichelte liebkosend über den goldblonden Schopf des Mädchens. Eine Dreiviertelstunde später, als wir den Raum verließen, fiel ich fast um vor Erstaunen. Ich war mir so sicher gewesen, Hebe vor mir zu haben, dass ich es kaum glauben konnte, dass die goldblonden Haare einem anderen Mädchen mit wachsbleichen Wangen und kornblumenblauen Augen gehörten. Sie war durchaus hübsch, aber entsetzlich blass! Trotzdem nahm ich mir auf der Stelle vor: Dir werde ich im Oktober gleich den Hof machen. Leider hatten, wie ich einen Monat später feststellen musste, vierzehn andere Erstsemester den gleichen Entschluss gefasst.
Am Freitag, dem 4. Oktober, Punkt ein Uhr, begann mein Biologiestudium mit einer Physikvorlesung. Gleich darauf folgte das erste praktische Seminar. Von zwei bis halb sechs zeichneten wir im Praktikumssaal des zoologischen Laboratoriums Präparate von Einzellern, die unter einem Mikroskop lagen. Und das taten wir in der Folge jeden Nachmittag, von montags bis freitags, bis Weihnachten.
Sehr bald fanden wir heraus, dass man Vorlesungen ruhig schwänzen konnte, dass aber bei sämtlichen Praktika sehr genau auf Anwesenheit geachtet wurde. Sogar wenn man, wie ich am Mittwochnachmittag, eine halbe Stunde früher gehen wollte, um pünktlich zum Katechismusunterricht zu kommen, musste man den Praktikumsleiter um Erlaubnis bitten. Und die wurde nur sehr mürrisch erteilt.
»Wie? Katechismusunterricht? Gott existiert doch gar nicht!«
Ob ich damals auch schon dieser Ansicht zuneigte, weiß ich nicht mehr genau, weil mein Glaube an Gott sehr allmählich verdunstet ist. Trotzdem wollte ich unbedingt zum Katechismusunterricht, weil ich dort, im ersten Studienjahr jedenfalls, Jouri wiedersah. Anschließend gingen wir zum Essen in die Mensa und tauschten unsere Erfahrungen aus.
»Es ist schrecklich«, beklagte ich mich bei ihm, »jeden Nachmittag haben wir von zwei bis halb sechs Praktikum. Querschnitte von Schwämmen und Bandwürmern zeichnen oder von Meristemoiden, grauenhaft.«
»Das ist nichts gegen Mathematikvorlesungen, die kein Aas versteht. Man kapiert nichts. Zehn von uns haben bereits die Flinte ins Korn geworfen. Fach gewechselt, spurlos verschwunden oder endgültig aufgehört. Bei euch auch?«
»Bei uns sind drei Jungs nicht mehr dabei und ein sehr hübsches Mädchen, Giselle, das übrigens erst nach den Einführungstagen aufgetaucht ist. Sie hat aufgehört, weil sich auf einmal herausstellte, dass sie schwanger ist.«
»Von einem deiner Mitstudenten?«
»Soweit ich weiß, nicht. Wahrscheinlich von einem Burschenschaftler.«
»In meinem Semester gibt es kein einziges hübsches Mädchen, schlimmer noch, es gibt überhaupt kein Mädchen. Mathematik ist anscheinend zu schwierig für das weibliche Geschlecht. Und wie ist das bei Biologie?«
»Lauter Wesen mit Dutt und Friedhofsgesicht«, log ich.
Über Julia mit dem langen goldblonden Hebe-Haar schwieg ich. Im Oktober ließ sie sich die Haare schneiden, sodass ich jedes Mal, wenn ich sie von hinten sah, für einen Moment auf die falsche Fährte gelockt wurde und meinte, Hebe vor mir zu haben. Manchmal, am Ende eines schier endlosen Praktikumstags, wenn einer meiner Mitstudenten heimlich reinen Praktikumsalkohol mit Fruchtsaft verdünnte und das Getränk in kleine Bechergläser verteilte, erschien, wenn sie auch ein Schlückchen getrunken hatte, tatsächlich so etwas wie ein Anflug von Farbe auf ihren Wangen. Dann zündete sie sich jedes Mal eine Zigarette an, und ein Mitstudent nach dem anderen schlenderte zu ihr hin, um durch ihr Mikroskop zu sehen und ihre Zeichnung bewundernd zu kommentieren. Ich blieb stur auf meinem Platz sitzen und war mir der Tatsache nur allzu bewusst, dass ich bei Weitem nicht der Einzige war, der sie nett fand.
Dann und wann ging ich zu meinem Mitstudenten Toon hinüber, der schräg hinter mir saß und auch immer stur hocken blieb, wenn sie mithilfe einer Zigarette ihren Männermagneten aktivierte. Toon war der Auffälligste in unserem Semester. Sein schlohweißes Haar wuchs wie eine Biwakmütze um seinen Kopf herum. Mit seinem ebenfalls schlohweißen Bart sah er aus wie ein krummer Gartenzwerg. Nur die Zipfelmütze fehlte. Toon redete pausenlos, nicht mit einer bestimmten Person, sondern mit allen, die zufällig in der Nähe waren. Und wenn keiner da war, redete er einfach weiter. Wie ein begeisterter Sportreporter kommentierte er die Querschnitte, die er unter seinem Mikroskop betrachtete.
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