Schneeflockenbaum (epub)
Er verglich das, was er sah, mit dem, was er früher bereits gesehen hatte, zitierte Lehrbücher und stellte Fragen, auf die er selbst sogleich eine vorläufige Antwort formulierte. Von all meinen Semesterkollegen war dieser sprachgewandte Albinognom, dieses genetische Monstrum, wie Mitstudent Gerard ihn nannte, die kurioseste Erscheinung. Freunde hatte er nicht, und er knüpfte auch keine Freundschaften. Er wohnte nicht in einem Studentenzimmer, sondern bei seinen Eltern am Pieterskerkhof.
An einem regnerischen Winternachmittag spazierte Julia mit ihrer glühenden Zigarette zu Toon, schaute durch sein Mikroskop und fragte ihn dann geradeheraus: »Glaubst du an Gott?«
Er sah nicht auf, zeichnete seelenruhig weiter und antwortete: »Gott? Mich dünkt, dass man im vorhandenen Angebot der leider so fahrlässig beschränkten Propositionssammlungen, die als ebenso viele Religionen die Menschheit plagen, kaum ein schlüssiges Theorem zu entdecken vermag, das einem vernünftigen Menschen auch nur eine Sekunde zusagen kann, und die minimalistische Asymptotenvariante, die als Monotheismus bezeichnet wird, scheint mir von vornherein bereits ungerechtfertigt, weil die Welt nun einmal gemäß den Prinzipien der Stochastik funktioniert, wobei die Prädestinationslehre wohl die allerdeterministischste Variante dieses Typs von ständig Unheil vorhersagenden, kasuistisch gefärbten Konzepten ist.«
Julia
M ir gelang es während des ersten Semesters nicht ein einziges Mal, Julias Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Sehr geduldig wechselte sie, vier ganze Quartale lang, von einem Mitstudenten zum anderen. Kurze Techtelmechtel, die keine wirklichen Beziehungen waren. Es schien, als teste sie spielerisch jeden Jungen, um sich dann wieder von ihm zu trennen. Ich litt darunter, dachte aber trotzdem: Wenn sie alle ausprobiert, landet sie am Ende ja vielleicht auch bei mir. Obwohl wir einander jeden Nachmittag beim Praktikum sahen, habe ich dennoch während unseres ersten Studienjahrs nicht ein einziges Mal eine Chance gesehen, etwas zu ihr zu sagen oder sie etwas zu fragen. Selbst als wir zum Abschluss des ersten Jahres, aufgeteilt in kleine Gruppen, mit verschiedenen Professoren Exkursionen unternahmen und ich zu ihr in die Gruppe kam, gelang es mir nicht, auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln. Die Professoren belegten sie jedes Mal sofort mit Beschlag. Noch heute sehe ich haargenau vor mir, wie unser hochberühmter Professor Wolvenkamp sich inniglich mit ihr am Wassergraben niederlässt, um sie auf eine Libellula aufmerksam zu machen, die blauer noch als ein Türkis gemalet.
Heutzutage fotografiert alle Welt, doch damals gab es nur einen einzigen Mitstudenten, der sich berufen fühlte, unsere Unternehmungen zu dokumentieren. Es ist geradezu erstaunlich, wie prophetisch viele seiner Aufnahmen sich im Nachhinein erwiesen haben. Auf einem seiner Schnappschüsse hockt Julia in hoher Zittergrassegge neben unserem Kommilitonen Rudi. Schon damals wusste er, der spätere Bearbeiter der berühmten Flora der Niederlande von Hendrik Heukels, alles über Pflanzen. Sie raucht gelassen eine Zigarette, während Rudi eifrig eine Pflanze bestimmt. Von einer Beziehung zwischen den beiden war damals noch keine Rede, aber wenn man sich das Foto genau ansieht, wundert man sich nicht, dass die beiden sich im zweiten Studienjahr verlobten.
Ehe es so weit war, gingen wir im Juni 1963 eine Woche lang auf Exkursion nach Ellecom. Mit dem Kommilitonen Theo streunte Julia am ersten Abend durch den Middachter Wald, mit Kees verschwand sie am zweiten Abend jenseits der Ijssel, hinten auf dem Motorroller von Cees fuhr sie am dritten Abend nach Arnheim. Ich beobachtete alles, ich litt, und ich las Biografien großer Komponisten. Ich dachte: Dauerte diese Exkursion doch nur einen Monat. Dann käme ich vielleicht auch noch an die Reihe.
Nichtsdestotrotz gelang es mir in Ellecom zum ersten Mal, von ihr beachtet zu werden. Sobald es hell wurde, stand ich auf, und im Juni wird es ziemlich früh hell. Ich setzte mich dann auf einen Zaun und las im Mozart-Buch von Hermann Abert. Als ich an einem dieser Sommermorgen wieder in aller Frühe auf dem Zaun saß und ein musikalisches Pferd auf der Wiese dahinter seinen Kopf auf meine Schulter legte, um mitzulesen, trat auf einmal aus dem Schatten der Jugendherberge, in der wir untergebracht waren, ein Mädchen hervor. Die Sonne schien mir in die Augen, und ich dachte: Ist das etwa Julia?
Das Mädchen trug eine hellblaue Hose
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