Schneeflockenbaum (epub)
und einen weißen Pullover. Sie bemerkte mich, kam langsam auf mich zu und streichelte zärtlich die Nüstern des Pferds, das auch etwas über Mozart erfahren wollte.
»Warum sitzt du hier?«, fragte Julia.
»Weil ich hier in Ruhe lesen kann.«
»Es ist so schönes Wetter, und du hockst hier und liest?«, fragte sie erstaunt und auch einigermaßen entrüstet.
»Ja, warum nicht?«
»Weil man jetzt wunderbar spazieren gehen kann. Sollen wir?«
Und dann spazierte ich mit Julia in aller Frühe durch den duftenden Middachter Wald. Es roch so herrlich, die von Wald umgebenen Weiden dampften. Im Wald selbst war noch niemand zu sehen, und wir gingen einfach drauflos; wir schwiegen beide. Wie in Gegenwart von Hebe war ich mit Stummheit geschlagen. Was hätten wir einander auch sagen können, nachdem wir schon ein Jahr lang nichts zueinander gesagt hatten? Was mein Herz erfüllte – das, was ich soeben über Mozart gelesen hatte –, darüber wagte ich nicht zu sprechen. Schon so oft war ich, wenn ich gegenüber meinen Mitstudenten von wirklicher Musik sprach, ins Leere gelaufen. Was für mich so glorreich an die Stelle des »einzig Nötigen« getreten war, hatte für die anderen keine Bedeutung.
Wir überquerten einen unbewachten Bahnübergang. Kaum waren wir auf der anderen Seite wieder im Wald, da donnerte laut pfeifend ein Zug an uns vorüber.
»Mannomann, da fehlte nicht viel«, kicherte Julia aufgekratzt. »Um ein Haar wären wir zusammen gestorben. Da hätten die anderen aber komisch geguckt.«
Ein verirrter Frosch hüpfte über den Waldweg.
»Ach, du armer Wicht«, sagte sie, »wie kommst du denn hierher? Sollen wir ihn mitnehmen? Wenn wir an einen Bach kommen, können wir ihn dort ans Ufer setzen.«
Ich trug den Frosch durch den Middachter Wald. Als wir auf einen kleinen Bach stießen, nahm sie ihn mir ab und setzte ihn äußerst vorsichtig zwischen eine der schönsten Bachuferpflanzen: Gegenblättriges Milzkraut.
Nach Ellecom begannen die lächerlich langen akademischen Ferien. Als wir im Oktober nach Leiden zurückkehrten, waren Rudi und Julia unerwarteterweise ein Paar. Wir anderen fanden, die beiden passten ganz und gar nicht zueinander, und waren verärgert, eifersüchtig, unzufrieden, neidisch. Wir sahen zu und litten.
Am Ende des zweiten Jahres sah das Curriculum eine Exkursion nach Gulpen vor. Anders als in Ellecom, wo wir in großen Schlafsälen untergebracht waren (Jungen und Mädchen natürlich getrennt), schliefen wir diesmal in kleinen Zimmern mit riesigen Doppelbetten. Toon und ich teilten ein Zimmer. Am ersten Abend faltete er die Laken doppelt. Er wickelte sich in ein Laken, ich wickelte mich in das andere, und wir legten uns so weit wie möglich voneinander entfernt hin. Ängstlich versuchten wir, jeden körperlichen Kontakt zu vermeiden. Am Ende der Exkursionswoche wachten wir jedes Mal brüderlich aneinandergeschmiegt auf. Manchmal schreckte ich nachts aus dem Schlaf, weil Toon unser Bett und das Zimmer verließ. Schlafwandelnd irrte er durch die Flure und jagte so etlichen Mitstudenten Schauer über den Rücken, vor allem wenn er vor der steilen Treppe stutzte und erst nach langem Zögern kehrtmachte.
Dort in Gulpen fingen wir Laubfrösche, Geburtshelferkröten und Gelbbauchunken. Toon brachte die heute unter Naturschutz stehenden Amphibien in unserem Doppelbett unter. Einmal kam Julia abends vorbei, um unsere Geburtshelferkröten zu betrachten. Da Toon zusammen mit Gerard unterwegs war, um das Gulpener Nachtleben zu studieren, schlug ich die Decke zurück und holte für sie unsere Frösche, Kröten und Unken vorsichtig am Fußende des Bettes hervor. Julia schlug vor, zwei Laubfrösche auf dem Bettvorleger um die Wette hüpfen zu lassen. Sie zählte bis drei, und dann berührte jeder seinen Frosch kurz am Hinterteil. Gewonnen hatte, wessen Frosch den weitesten Sprung machte.
Dies erwies sich als ein überaus spannendes Spiel. Die Laubfrösche absolvierten für uns einen regelrechten Weitsprungwettbewerb. Wir wollten gerade die beiden besten Frösche gegeneinander antreten lassen, da stürmte plötzlich Rudi ins Zimmer. Er zertrat Julias Rekordfrosch und warf mich aufs Bett. Dann bearbeitete er mich, unverständliche Drohungen ausstoßend, gezielt mit seinen spitzen Ellenbogen. Ich kam nicht auf den Gedanken, mich zu wehren. Dafür war ich zu verblüfft. Als er seine Wut ausgetobt hatte, zog er Julia brüsk zur Tür hinaus und schleppte sie über den Gang hinter sich her. Die Tür
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