Schneeflockenbaum (epub)
Harvard zurückkommst!«, rief ich ihm in Gedanken zu. »Wer weiß, vielleicht triffst du dort eine brillante Mathematikerin. Und drüben, in den Vereinigten Staaten, da wimmelt es von riesigen Spinnen, da kriechen sogar Schwarze Witwen herum, da kannst du dir also mit Spinnengräbern unsterbliche Verdienste erwerben. Warte doch mit der Verlobung.«
Aber er wartete nicht. An einem Sommerabend im Juni radelte ich zur Binnensingel in Vlaardingen. Sowohl das Haus als auch der mit Lampions geschmückte Garten waren voller umherschlendernder Menschen, die ich nicht kannte. Sie taten sich gütlich an Kaviarhäppchen, an grünen Heringen, an rohem Thunfisch, an Lachsstückchen. Frederica sah bezaubernd aus. Jouri schaute ziemlich bedeppert drein.
An dem denkwürdigen Ort hinten im Garten blühte überschwänglich und im vollen Glanz ein Zierstrauch. Weiße Blütenbüschel hingen herab, es hatte etwas Unwirkliches. Die Blüten sahen aus wie schneebedeckte Händchen. Dort, bei den weißen Händchen, traf ich Jouris Eltern. Kerkmeester sen. trug tatsächlich einen Dreiteiler. Er war fast nicht wiederzuerkennen und strahlte übers ganze Gesicht. Es war, als habe er nun endgültig die schwere Last seiner Kriegsvergangenheit abgeschüttelt. Auch Jouris Mutter strahlte, so wie seine beiden Schwestern übrigens auch, die inzwischen bereits verheiratet waren und sogar schon jeweils ein Kind zur Welt gebracht hatten, um – wie Larkin so schön sagt – das Elend weiterzureichen.
Als Jouris Vater mich mit meiner Champagnerflöte und meinem Teller mit Fischhäppchen kommen sah, sagte er: »Wie schön, dich mal wiederzusehen. Schau mal wieder in der Werkstatt vorbei. Ich habe zwei neue Superboxen gebaut, denn wir gehen einer neuen, großen Zeit entgegen. Das Monozeitalter liegt hinter uns, das Stereozeitalter bricht an. Stereo, das wird der ganz große Renner, das ist die Zukunft, denk an meine Worte. Ich bin bereit.«
»Stereoplatten sind durchschnittlich zwei Gulden teurer als Monoplatten«, sagte ich sparsam.
»Nicht mehr lange. Bald wird es gar keine Monoplatten mehr geben.«
Es war ein schwülwarmer Sommerabend, erfüllt vom schweren Duft des Jasmin, der noch an Intensität zuzunehmen scheint, wenn die Nacht kommt und die ersten Sterne zu funkeln beginnen.
Ich konnte mich nicht losreißen von der Stelle hinten im Garten, wo Frederica und ich uns geküsst hatten. Als es so dunkel war, dass man die anderen kaum noch erkennen konnte, stand ich noch immer dort und betrachtete die leuchtenden weißen Blütenbüschel des Zierstrauchs. Aus dem Dunkel kam jemand auf mich zu. Frederica. Sie legte die Hände auf meine Wangen, küsste keusch ebendiese und drückte ihre Lippen dann ebenso langsam wie vorsichtig auf meinen Mund.
»Ich danke dir«, flüsterte sie, »oh, ich bin so glücklich, vielen, vielen Dank.«
Erst als ich durch die finstere Zuidbuurt zurückradelte, dort, wo mich keiner sah, in Höhe der Schleuse, wo ich Hebe immer überholt hatte, schluchzte ich meinen Kummer hinaus, obwohl ich mich, so dunkel es war, dafür schämte. Zwischen dem mannshohen Sumpfziest und der duftenden Minze habe ich mich sogar ans Wasser gesetzt, um zur Ruhe zu kommen. Dabei fragte ich mich die ganze Zeit, warum ich so große Trauer über den Verlust eines Mädchens empfand, das meiner Ansicht nach nicht einmal gut genug war für meinen besten Freund. Ich konnte nicht aufhören, das schönste Gedicht zu flüstern, das ich kannte, und das beruhigte mich. Ich kann jedem nur empfehlen, Gedichte auswendig zu lernen und sie sich in den unmöglichsten Situationen aufzusagen. Sie erweisen sich als Beschwörungen, als Zaubersprüche, um sich selbst zu beruhigen. Mich munterte es dort bei der Schleuse enorm auf, Rilke zu zitieren. Es war, als sagte ich damit zu mir selbst: »Du kannst sie zurückgewinnen, irgendwann einmal, auch wenn Jahre darüber vergehen.«
Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.
Ichthus
I m September reiste Jouri nach Harvard ab. Wir verabschiedeten uns von ihm in Schiphol – Frederica, ihre Eltern, seine Eltern, seine Schwestern und ich. Jouris Angehörige blieben noch ein wenig,
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