Schneeflockentanz (German Edition)
anzusehen.
„ Ich habe abgesagt“, erwiderte dieser und schien auf einen hölzernen Engel konzentriert, für den er einen Platz am Baum suchte. Can stand der Mund offen. „Das kannst du doch nicht machen! Es ist Weihnachten, und das ist schließlich deine Familie, bei der du eingeladen bist!“
„ Ach, willst ausgerechnet du mir jetzt etwa sagen, was sich gehört und was nicht?“, fuhr Jo ihn plötzlich an. Can erstarrte. Es war das erste Mal, dass Jo ihm gegenüber die Stimme erhob - das erste Mal, dass sie sich stritten. Und sein Mitbewohner schien noch nicht fertig zu sein. „Du bist genauso wie ich eingeladen worden, aber du hast Anne ja regelrecht abserviert. Es ist nicht leicht, jemandem entgegenzukommen, der so vieles ablehnt wie du! Du magst keinen Schnee? Fein! Du findest Weihnachten doof? In Ordnung! Aber warum hast du mich die ganze Zeit angelogen? Warum, Can?“
Jo starrte ihn wütend an und sein Blick verlangte nachdrücklich die Antwort auf seine Frage. Can spürte, wie seine Knie weich wurden. Er fühlte, dass der Schutzwall, den er um sich gebaut hatte, einstürzte. Und dennoch wollte er nicht so schwach klingen, wie er sich fühlte. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst“, erwiderte er harsch. Jo ließ einen der Zweige los, den er für eine kleine silberne Kugel ausgesucht hatte, und trat einen Schritt auf Can zu.
„ Ich möchte wissen, warum du mir nicht gesagt hast, dass du schwul bist.“
Der Satz war wie ein Faustschlag in den Magen. Can taumelte zurück und machte eine abwehrende Geste, als Jo ihm noch näher kommen wollte.
„ Dann hat Anne es dir also gesagt. Und dabei hat sie geschworen, meinen Wunsch zu respektieren. Sie war die längste Zeit meine Freundin!“
„ Es war nicht Anne, die es mir verraten hat“, sagte Jo jetzt leise. Er war stehengeblieben, doch er hielt Can mit seinem Blick fest.
„ Ach, und wer sollte es sonst gewesen sein?“
„ Du warst es. Jetzt gerade eben“, erwiderte Jo sanft. Can wich Jo's Blick aus und wusste nicht, ob er wütend auf sich selbst sein sollte, oder doch lieber auf Anne, die die ganze Situation erst heraufbeschworen hatte.
„ Es war ein Fehler, dich bei mir wohnen zu lassen“, sagte er matt.
„ Warum war das ein Fehler? Ich verstehe nicht, was so schlimm für dich ist.“
„ Natürlich nicht. Das versteht niemand. Weder du, noch Anne, noch Tobi. Und warum? Weil ihr nicht so fühlt wie ich! Weil ihr keine Ahnung habt, wie es ist, sich immer verstecken zu müssen und der Familie vorzuspielen, man sei ein ganz anderer. Es tut mir leid, dass ich nicht so locker damit umgehen kann, dass ich schwul bin. Und trotzdem hast du es ja offensichtlich gemerkt.“
Nun lachte Jo plötzlich, was Can völlig verwirrte. „Was ist daran so komisch?“, fragte er.
„ Du hast dich durch rein gar nichts verraten. Ich habe dir dein Schauspiel völlig abgenommen. Du ahnst gar nicht wie sehr!“
„ Und wie bist du dann drauf gekommen? Hat es dir der Weihnachtsengel erzählt, oder was?“
„ Nein, es war etwas unspiritueller“, sagte Jo und deutete auf den Fußboden. „Als ich Wasser in den Christbaumständer gießen wollte, ist mir eine ganze Kanne daneben gelaufen. Das Handtuch im Bad reichte nicht und deshalb habe ich deinen Kleiderschrank geöffnet. Und tatsächlich war da ein Fach mit Handtüchern, aber mir fielen auch ein paar DVDs entgegen. Eigentlich habe ich mir da noch gar nicht viel gedacht, aber dann fand ich zwei tadellose Bilderrahmen. Die, von denen du behauptet hast, einer wäre heruntergefallen und kaputt gegangen. Ich sah mir die Bilder an und fragte mich, warum du die Drucke von zwei nackten Männern wohl abgehangen hast, bevor ich in deine Wohnung kam. Und dann sah ich mir die DVDs doch mal etwas genauer an. Ich weiß, dass du mich dafür nun hassen musst. Ich weiß, dass ich in deine Privatsphäre eingedrungen bin, und es nicht wieder gut machen kann. Ich hoffe nur, dass du verstehst, dass ich in diesem Moment nicht anders konnte, als mich restlos zu überzeugen, mit wem ich es zu tun habe. Ich konnte kaum fassen, wie perfekt du deine Rolle gespielt hast. Das sage ich dir in großer Anerkennung, denn ich weiß, wie verdammt schwer das ist.“
Can versuchte, all das Gesagte zu verarbeiten. Ein wütender Knoten hatte sich in seinem Magen gebildet, als er hörte, dass Jo die Sachen in seinem Kleiderschrank inspiziert hatte. Und er schämte sich, weil er es nicht geschafft hatte, die Gay-Porno-Filme in den Müll zu
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