Schneegeflüster
gutgehen lassen, denn um Punkt Mitternacht würden meine Eltern wieder vergessen haben, dass ihre Tochter das gemeinsame Weihnachtsessen verweigert, die Stockfische verschmäht und die Häkelsocken an frierende Bettler weiterverschenkt hatte.
Was für ein Fest!
»Es ist ein Mann, stimmt’s?«
Meine Mutter sah aus feuchten Augen zu mir auf, in der einen Hand ein gigantisches Küchenmesser, in der anderen ein Taschentuch, in das sie sich soeben geräuschvoll geschnäuzt hatte.
»Aber Küken, du kannst ihn uns doch vorstellen. Ihr könnt doch mit uns zu Abend essen, umso besser, wenn er gleich am Anfang die Traditionen deiner schwedischen …«
»Herrgott, Mama, hörst du mir überhaupt zu?«
»Aber ja, Küken, aber ja.«
Immer wenn meine Mutter das Küken auspackte, das ich für sie wegen meiner hellblonden Haare als Kleinkind gewesen und bis heute geblieben war, bewegte sie sich auf einem dünnen Drahtseil über ein Tränenmeer. Gleich bei meiner Ankunft hatte ich nämlich der staunenden Familie verkündet, dass ich am Abend andere Pläne hatte und daher an Heiligabend zur Bescherung nicht anwesend sein würde. Nach einer Phase betretenen Schweigens behandelte man mich seitdem wie ein neues, besonders empfindliches Haustier. Mit besorgten Blicken verfolgte mein Vater jede meiner Bewegungen. Mein Schwager machte halbherzige Witze über die Nachteile der Eltern-Kind-Bindung, meine Schwester versuchte, in Zeichensprache unbemerkt mit mir zu kommunizieren, und die Kinder umkreisten mich wie sonst nur die größten und vielversprechendsten Pakete unterm Baum. Einzig meine Mutter war stumm in die Küche verschwunden, wo sie sich lauter als sonst dem Zubereiten der Fischspeisen widmete. Im ganzen Haus roch es, als hätte jemand ein Aquarium mit Tannennadelsirup gefüllt und darin eine Legion Heringe erstickt. Nur das süße Aroma des Pfefferkuchens weckte Kindheitserinnerungen an ein vages Gefühl der Vorfreude. An helle Silberglöckchen, Schneeflocken vor dem Fenster und große Geheimnisse hinter verschlossenen Türen. Als mein Vater um Punkt drei Uhr nachmittags mit kindlicher Begeisterung im Gesicht die Donald-Duck-DVD gestartet hatte, war ich in die Küche geschlüpft und hatte, um Versöhnung bemüht, gefragt, ob ich etwas helfen könne.
»Es gibt keinen Mann, Mama. Schon seit fünf Jahren nicht, seit G-Gottfried« - ich tat mich immer noch schwer
damit, den Namen dieses Mistkerls auszusprechen - »einen Teenager geschwängert und mich sitzengelassen hat.«
Das Kind mit dem Kind hatte inzwischen ein Studium der Politikwissenschaft begonnen, und Gottfried, der angehende Schriftsteller, kümmerte sich nun, wie man hörte, um den Haushalt, aber zum Glück war das nicht mein Problem. Zum Glück war ich erwachsen geworden.
»Es ist ja auch kein Wunder, Åsa«, jammerte meine Mutter nun wie so oft, »so wie du dich kleidest! Eine Frau mit deiner Figur und Turnschuhe! Und diese Polhemden …«
»Polo, Mama, es heißt Polo.«
»Ist doch egal, wie das Zeug heißt, es ist nicht kleidsam. Männer sind wie Heringe, man muss sie fangen.«
So ein Satz konnte nur von meiner Mutter kommen!
»Deine Schwester Inga ist zwei Jahre jünger als du, und sie hat …«
»WAS???«
Ich warf den Stapel Tupperware, den ich gerade zur Anrichte balancieren wollte, auf den Boden, wo sich die verschiedenen Plastikbehältnisse flächendeckend verteilten. Fassungslos ließ meine Mutter die Arme sinken, das Küchenmesser entglitt ihr und landete scheppernd zwischen dem Plastik. Laut zu werden war nicht meine Absicht gewesen. Doch mit der verlockenden Aussicht, dass morgen früh alles vergessen sein würde, nahm ich mir die Freiheit, meiner Mutter einmal in meinem Leben zu sagen, was ich wirklich dachte. Und das tat ich.
Zehn Minuten später saß ich, immer noch zitternd, in meinem Auto und fuhr Richtung Innenstadt. Alles hatte ich gesagt. Dass ich schwedische Weihnachten hasste, dass ich keinen Fisch aß, dass Inga nur deshalb stolze Zweifachmutter
war, weil sie für ihren Mann sämtliche berufliche Ambitionen aufgegeben hatte, dass mein Vater keine eigene Meinung hatte, sondern ein Duckmäuser war, dass ich meine IKEA-Family-Karte schon vor acht Jahren zerschnitten hatte, dass mir sogar Pfefferkuchen zum Hals heraushing und dass ich mein Leben so liebte, wie es war. Wobei Letzteres gelogen war. Ich hasste mein Leben mindestens so sehr wie Weihnachten.
Zum Glück gab es das Wunschwellenprinzip, denn das laute Schluchzen meiner
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