Schneegeflüster
einundzwanzig Uhr sechzehn den Weihnachtsbaum in Brand gesetzt hat, dann habe ich ein Hühnchen mit dir zu rupfen.«
Auch das noch! Der Kostümierte hatte mich anscheinend beim unachtsamen Umgang mit einer betriebseigenen Wunderkerze beobachtet und war nun darauf aus, mir den entstandenen Schaden anzuhängen. Wer war das überhaupt? Ich hatte sein Gesicht noch nie gesehen. Vielleicht ein neuer Kollege vom Außendienst? Didier, der schwule Graphiker, der in Wahrheit Dieter hieß, war normalerweise für solche Maskenballauftritte zuständig, doch zwischen ihm und Tamara herrschte seit dem Coverentwurf für Karibische Gaumenfreuden dicke Luft, weshalb er der Weihnachtsfeier aus Protest ferngeblieben war.
»Sorry, ich würde mich wirklich gerne weiter mit dir unterhalten, aber ich wollte gerade gehen. Schickes Kostüm!«
Ich hatte vor, das Verlagsgebäude so schnell wie möglich zu verlassen, ehe noch mehr vorweihnachtliche Punschstimmung über mich hereinbrechen konnte. Im vergangenen Jahr war jemand um Mitternacht auf die glorreiche Idee gekommen, sich an einem Rezept aus Andrekas Bestseller
Feurige Cocktails zu versuchen, und hatte beinahe die Büroküche in die Luft gejagt. Hochprozentiges brannte eben nicht nur in der Kehle.
»Nicht so eilig, Frau Ooooooosa!«
Der Glitzerengel war so rasch zwischen mich und den Ausgang gehuscht, dass ich fast den Eindruck hatte, er wäre geflogen. Aber das war natürlich Unsinn. Alkoholisierte Drag Queens im Flügelchen-Outfit waren noch lange kein Grund, an Übersinnliches zu glauben.
»Was ist mit deinem Wunsch?«
»Meinem Wunsch?«
»Kindchen, ich habe nicht ewig Zeit. Glaubst du etwa, wir Feen hätten keine Weihnachtsfeier? Ich verpasse gerade das Crème-Brulée-Wettessen und den ersten Teil der Karaoke-Challenge ›Christmas Hits‹. Mottoshow!«, erläuterte er und sah mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob Wasser nass sei.
»Entschuldige bitte meine enorme Begriffsstutzigkeit. Ihr Feen ? Ich hätte dich mehr für den Typ Erzengel gehalten.«
Das Wesen hickste aufgeregt und zupfte an seinem weißen Kleidchen herum.
»Meine Idee war das nicht, das kannst du mir glauben! Es unterdrückt die Individualität der Fee als Einzelperson. Aber zur Weihnachtszeit müssen wir in diesen affigen Engelskostümen rumlaufen. Normalerweise tragen Wunschfeen flotte Schnitte und kräftige Farben. Pink zum Beispiel. Weiß steht mir auch überhaupt nicht, oder was meinst du?«
Wunschfeen???
»Ich bin keine Modeexpertin«, warf ich vorsichtig ein.
»Na, das sieht man. Sonst würdest du nicht in Jeans und Turnschuhen zur Weihnachtsfeier kommen. Schon mal was von Schick gehört? Du solltest dir eine neue Garderobe wünschen
oder besser gleich einen neuen Kleidergeschmack. Und apropos«, er deutete vielsagend auf seine hübsche goldene Damenarmbanduhr, »ich probe meinen Tanzschritt zu ›Last Christmas‹ jetzt seit drei Monaten, und ich habe keine Lust, wegen dir meinen Auftritt zu verpassen. Also los!«
Während das Wesen den Refrain dieses unsäglichen Wham-Klassikers summte und sich ein Kaviarbrötchen vom fast leeren Buffet fischte, schüttelte ich ratlos den Kopf.
Mit vollem Mund half mir die Fee auf die Sprünge.
»Ach, verdammt, ich vergesse immer, dass ihr Menschen ja oft nichts von unserer Existenz wisst. Also«, er schluckte seinen Mundvoll Brötchen hinunter, »du hast soeben Bekanntschaft mit dem Wunschwellenprinzip gemacht. Wenn ein Mensch von einem dringenden Verlangen erfüllt ist und sich in dem Moment ein Funke entzündet, hat er bei uns Feen einen Wunsch frei. Nur einen. Keinen Dauerauftrag, kein Storno, verstanden? Was du dir wünschst, wird eintreten, aber du kannst es nicht wieder rückgängig machen. So, tadaaa, jetzt dein Wunsch!«
»Darf ich dann nach Hause gehen?«
»Jep!«
»Gut.« Ich beschloss, dass es besser war, das Partyspiel mitzuspielen. Es war wie beim Pfänderziehen oder Flaschendrehen, je schneller man es hinter sich brachte, desto eher war man daheim im Bett.
»Gut, Herr Fee, dann wünsche ich mir, dass Weihnachten heuer ausfällt. Dass ich einfach aufwache, und es ist der 25., okay?«
Verdutzt blinzelte der Feerich und tippte sich nachdenklich an die Schläfe.
»O nein, also über die Zeit haben wir keine Verfügungskraft,
sonst würde ja jeder ruck, zuck in die Zukunft springen, wie es ihm beliebt. Leider. Wir sind keine Science-Fiction-Helden. Aber ich kann dir anbieten, dass du am 25. aufwachst und dich an nichts erinnerst, was am 24.
Weitere Kostenlose Bücher