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Schneegeflüster

Titel: Schneegeflüster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind , Rebecca Fischer , Steffi von Wolff , Andrea Vanoni
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geschehen ist. Im Fachjargon nennen wir das einen Streichtag. Du kannst anstellen, was du willst, es wird am 25. vergessen sein, sowohl von dir als auch von anderen. Das ist, als ob Weihnachten nicht existiert hätte. Einverstanden?«
    Ich kam mir vor wie bei der Honorarverhandlung mit einem findigen Agenten, nickte jedoch eifrig und wollte dem Wesen gerade auf die Engelsschulter klopfen, als etwas wirklich Merkwürdiges geschah.
    »Last Christmas, I gave you my heart, but the very next day, you gave it away, this year …«
    Das Wesen - die Fee! - hob singend die rechte Hand, schnippte mit den Fingern und löste sich mit einem lauten »Plopp« direkt vor meinen Augen in Luft auf. Nicht einmal ein einziges Goldhärchen blieb von ihm zurück. Dafür tauchte Tobias Andreka in meinem Gesichtsfeld auf und winkte mit der Hand vor meiner Nase.
    »Halloho, jemand zu Hause? Sie sehen ja aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen, Frau Glück. Mund zu, sonst schlucken Sie noch eine Fliege oder sonst was.«
    Er grinste anzüglich. Ich wünschte mir, er wäre ein Gespenst.
    »Wissen Sie vielleicht, wohin der Typ im Engelskostüm verschwunden ist?«
    Andreka kicherte.
    »Engelskostüm? Also Frau Glück, wie tief haben Sie denn schon in meine Spezialbowle geschaut? Die ist aber auch stark, zugegeben.«

    Ich ließ ihn wortlos stehen und sah mich um. Kein Engel weit und breit. Tamara schaute mit vor der Brust verschränkten Armen und mürrischem Blick zu, wie die Herren von der Haustechnik die Reste des Christbaums zusammenkehrten. Der Weihnachtsmannaufsteller neben ihr wirkte wie eine bösartige Message an meine Adresse. Ansonsten waren alle wieder mit ihrer glückseligen Weihnachtsstimmung beschäftigt und ignorierten mich mit meinem Fragezeichen im Gesicht. Ich stellte mein immer noch halb volles Glas Wein ab, holte meinen Mantel aus meinem Büro und trat, mit einem letzten Blick zurück in das feenlose Gebäude, auf die Straße hinaus. Es regnete in Strömen.
    Was für ein Abend!
     
    Es war wie ein seltsamer Zufall, dass mich am nächsten Morgen ausgerechnet Wham! weckte. »This year, to save me from tears«, plärrte es aus dem Radiowecker, ehe ich den Knopf fand, der das Gerät verstummen ließ. Mit einem erleichterten Seufzen ließ ich mich zurück ins Kissen fallen. Hinter mir lag eine Nacht voll schrecklicher Träume. Tobias Andreka im Engelskostüm, der wie ein Drache Feuer speiend das Verlagsgebäude in Brand setzte. Und zu allem Überdruss war Weihnachten. Mein vierunddreißigstes verfluchtes Ikea-Weihnachten.
    Stockfisch und Hering. Schon beim Gedanken daran drehte sich mir der Magen um. Meine Mutter, eine gebürtige Schwedin, fuhr jedes Jahr am dreiundzwanzigsten Dezember zu Ikea. Dort kaufte sie nicht nur die halbe Gourmetabteilung leer, sondern auch immer wieder neuen Christbaumschmuck, als lagerten nicht bereits Tonnen davon im Keller und in der Garage. Der Baum musste riesig sein, der Glögg
hausgemacht, die Heringe nach Geschmacksrichtungen sortiert und die Geschenke mit Maschen, Schleifen sowie kleinen Anhängern geschmückt. Dazu besaß meine Mutter ein Regal voller Bastelanleitungsbücher und war Mitglied der örtlichen Handarbeitsrunde, die jedes Jahr ein neues Motto ausrief und mit Feuereifer Krippen, Engel, Tischdeko oder Häkelsöckchen herstellte. Der Pfefferkuchen meiner Mutter war eine regionale Berühmtheit, und wer zum ersten Mal vor ihrer ausgeklügelten Lichtinstallation stand, die mein Elternhaus in der beschaulichen Vorstadtsiedlung glitzern, funkeln und kilometerweit strahlen ließ, dem fiel für gewöhnlich die Kinnlade herunter. Würde man sagen, meine Mutter lebte in erster Linie für diesen einen Tag im Jahr, wäre das keine sonderliche Übertreibung.
    Ich hingegen hasste Weihnachten von ganzem Herzen. Dabei war rein optisch ich die Schwedin in der Familie. Während meine Eltern und meine Schwester Inga allesamt kleine, dünne, dunkelhaarige Menschen waren, ragte ich auf jedem Familienfoto als blonde Hünin heraus. Wie Oma und Opa Hildesson, erklärte meine Mutter mir, seit ich klein war, voller Stolz. Ich vermutete damals allerdings, sie wollte nur meine wahre Herkunft verschleiern: ein Findelkind, entdeckt in einer blauen Ikea-Plastiktüte gleich neben dem Knäckebrotregal.
    Mit sechzehn ließ ich mir die Haare zu Stoppeln rasieren und färbte sie dunkelrot, wurde Stammgast im Solarium und trug ausschließlich Minimizer-BHs; trotzdem riefen die jüngeren Schüler immer nur feixend »die

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