Schneegeflüster
wünscht uns »Frohe Weihnachten.«
Ich lächle zurück.
ANETTE GÖTTLICHER
Fehler 23
Donnerstag, 9. Dezember 2010. Nina.
»Hast du die Karten fertig? Die müssen heute in die Post, sonst kommen sie nicht mehr rechtzeitig vor Weihnachten an!«
»Welche Karten?«, fragte Nina, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen oder das Tippen zu unterbrechen. Die Pressemitteilung musste jetzt endlich fertig werden, viel zu lange quälte sie sich schon mit der Beschreibung des neuen Frühjahrsdufts herum. Und das Mitte Dezember, während draußen Schneeregen fiel und ihre To-Do-Liste vor dem großen Fest immer länger wurde.
»Die Weihnachtsgrüße an die Kunden!«, sagte Ninas Assistentin. Nina blickte endlich auf und sah Julia genervt auf einen Stapel rot-silberner Karten deuten, der auf einem hohen Papierberg neben Ninas Tastatur balancierte.
»Mach ich gleich, versprochen«, seufzte Nina, wedelte Julia mit einer Hand aus dem Zimmer, tippte mit der anderen das letzte Wort ihrer Pressemitteilung und schloss dann
aufatmend das Dokument. Ohne die Änderungen der letzten Stunde gespeichert zu haben, wie sie Sekunden später feststellte. Gerade als Nina laut losschreien wollte, betrat ihr Chef das Büro. Er nickte ihr zu, musterte sie kurz von oben bis unten und sagte: »Nina, lassen Sie alles stehen und liegen, wir müssen das Yolates-Projekt präsentieren. Ist doch kein Problem, oder? Und bitte auf Englisch, die Geschäftsführer der Londoner Niederlassung sind da.«
Nina, froh, dass sie morgens in Ermangelung gebügelter Blusen ein schwarzes Strickkleid angezogen hatte und sich trotz des Wetters gegen kuschelige Fellboots und für edle Lederstiefel entschieden hatte, stand auf, schnappte sich ihren Mantel und eilte ihrem Chef hinterher, der im Foyer bereits den Rufknopf des Aufzugs gedrückt hatte. Bevor sie den Lift betrat, sah sie noch, wie sich der Weihnachtskartenstapel zur Seite neigte und leise kollabierte.
Sieben Stunden später lagen die hundertfünfzig Karten immer noch ungeschrieben auf Ninas Schreibtisch, auf der Tastatur und einige auch auf dem Boden. Der Monitor hatte sich in den Ruhezustand geschaltet, und wenn Nina ihn wieder aktiviert und ihren Posteingangsordner angesehen hätte, wären ihr die 83 neuen Mails aufgefallen, von denen 15 wichtig waren und eigentlich noch am selben Tag beantwortet werden mussten. Doch Nina saß gerade leicht angeheitert im Taxi, das ihr der Chef für den Heimweg spendiert hatte. Es war spät geworden, denn nach der erfolgreichen Präsentation hatten sie die Delegation aus London noch zum Essen ins Mantris eingeladen, und obwohl Nina darauf geachtet hatte, nicht zu viel von dem vorzüglichen Chardonnay zu trinken, schwirrte ihr nun leicht der Kopf vor Müdigkeit,
Euphorie und Alkohol. Sie hatten gerade die Belgradstraße überquert, als Nina auf den unklugen Gedanken kam, mit dem Mobiltelefon ihre geschäftlichen Mails abzurufen. »Lade 1 von 83«, meldete das Handy, und Nina war auf einmal gar nicht mehr euphorisch zumute, sondern nur noch zum Heulen. Ein riesiger Berg unerledigter Aufgaben türmte sich vor ihr auf, und mit Grauen dachte sie an die To-Do-Liste, die sie in ihrem Moleskine-Notizbuch führte und in der es auch eine Spalte »Privates & Sonstiges« gab. Als ob der Job in der Agentur nicht schon stressig genug gewesen wäre, standen da unter »Vor Weihnachten zu erledigen« auch noch Dinge wie »Geschenke kaufen«, »Steuererklärung 2009« und »Herr Seibold«. O Gott. Herr Seibold. Auf einmal saß Nina kerzengerade in den kalten schwarzen Lederpolstern des Taxis. Fieberhaft rechnete sie nach, wann sie zuletzt bei ihm gewesen war. Heute war Donnerstag. Bisher hatte sie ihn immer abends besucht, allerdings nicht gestern, denn da war sie mit Tina im Kino gewesen, und am Dienstagabend war sie auf dem Sofa eingeschlafen und hatte sich erst gegen drei Uhr früh mit schmerzendem Rücken ins Bett geschleppt. Es musste also schon drei Tage her sein, seit sie ihrer Pflicht nachgekommen war.
»Haben Sie Haustiere?«, fragte sie den Taxifahrer, der erschrocken zusammenzuckte. Schließlich hatte Nina bisher außer »In die Ruffinistraße, bitte« kein Wort von sich gegeben.
»Wie lange kann denn so eine Katze ohne Futter überleben?«, fragte Nina weiter, ohne die Antwort auf die erste Frage abzuwarten. »Äh, und ohne Wasser?«
»Ein paar Tage bestimmt«, sagte der Taxifahrer. Er witterte ein Geschäft. »Aber sicher bin ich mir nicht. Wollen’S
vielleicht noch
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