Schneegeflüster
Kiefermuskeln verkrampften. Fehler 23 war mit Abstand der schlimmste Unfall, der beim Klonen passieren konnte. Bisher war er erst einmal aufgetreten, zehn Jahre war das her. Neun Menschen waren gestorben, bis sie den außer Kontrolle geratenen Klon unschädlich gemacht hatten. Zum Glück wurde die sogenannte Döner-Mordserie nie aufgeklärt, trotz der Veröffentlichung in der Sendung Aktenzeichen XY ungelöst, und inzwischen war auch das Interesse daran abgeebbt.
»Du darfst sie auf keinen Fall auf die Straße lassen«, herrschte er Manfred an, der nachts als Taxifahrer getarnt auf Kundenfang ging und seine Arbeit bis heute immer tadellos erledigt hatte.
»Dazu ist es leider zu spät. Sie ist weg.«
»Wie, sie ist weg?!«
»Abgehauen. Über das Fenster der Toilette.«
»Aus dem dritten Stock? Willst du damit sagen, dass dieser Klon nicht nur böse und skrupellos ist, sondern auch Spiderwoman?«
»Thomas, wir müssen die Kundin warnen. Ihr Klon ist gefährlich.«
»Nein, das werden wir nicht tun. Sonst kommen wir in Teufels Küche. Wir können nur abwarten und hoffen, dass es nicht in einem Desaster endet wie vor zehn Jahren.«
»Aber Chef …«
»Ende der Diskussion. Du behältst deinen Job, aber nur unter der Bedingung, dass du die Klappe hältst und dir so ein Fehler nie wieder passiert. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Chef.«
Manfred ging zurück zu seinem Mercedes und dachte den
ganzen restlichen Tag über die hübsche junge Frau und ihr Schicksal nach.
Freitag, 10. Dezember 2010. Nina.
Nina erwachte mit leichten Kopfschmerzen und wusste sofort, dass sie zu wenig geschlafen hatte. Sie fühlte sich schwer und todmüde, und außerdem trug sie immer noch das schwarze Kleid von gestern. Sie warf einen Blick auf die blauen Ziffern des Radioweckers. 06:15 stand da, und Nina atmete auf. Wenigstens nicht verpennt. Und noch genügend Zeit für eine heiße Dusche und einen starken Kaffee, bevor sie ins Büro fahren musste, um dort wenigstens oberflächlich das Acht-Uhr-Meeting vorzubereiten. Sie zog das Kleid über den Kopf und warf es in den Wäschekorb. Unter der Dusche fiel ihr der gestrige Abend wieder ein. Die Yolates-Präsentation und das Dinner im Mantris, der Chardonnay, die Taxifahrt, Herr Seibold. Sie musste lachen, als sie an den cleveren Kater dachte, der ihr in der Wohnung ihrer Freundin schnurrend um die Beine gestrichen war. Und dann erinnerte sie sich an den Taxifahrer und das Gespräch übers Klonen, und ihr wurde kalt trotz des heißen Wassers, das ihr über Kopf und Schultern lief. Sie schloss die Augen. Was war noch echt gewesen, und wo hatte der Traum begonnen? Sie wusste noch, dass sie »Klonen Sie mich!« gerufen und der Taxifahrer daraufhin gewendet hatte. Auf der Sonnenstraße. Dann hatte sie auf einmal nicht mehr im Taxi gesessen, sondern war durch Räume mit Parkettboden und Stuck an den hohen Wänden gegangen, die sie an eine Kanzlei oder eine Praxis erinnert hatten. Trotz der späten Uhrzeit, es musste weit nach Mitternacht gewesen sein, liefen einige Leute herum, die alle sehr freundlich lächelten und ziemlich geschäftig
wirkten, ohne hektisch zu sein. Wie sie dort hingekommen war, wusste Nina nicht mehr. War sie zu Fuß die Treppen hinaufgegangen oder mit einem Aufzug gefahren? Hatte der Taxifahrer sie an der Tür abgesetzt oder sie nach oben begleitet? Was war dann geschehen? Alles war weg. »Oder nie da gewesen, Nina«, sagte sie laut zu sich selbst und trat aus der Dusche. Als sie sich abtrocknete, fühlte sie Erleichterung. Plötzliche Ortswechsel sind typisch für Träume, ebenso die Tatsache, dass sie sich nicht mehr an die Gesichter der Personen in dieser Praxis - oder was das auch immer gewesen war - erinnern konnte. Alles nur ein Traum, aber immerhin ein sehr origineller, dachte Nina und zog Unterwäsche, eine Bluse und einen Hosenanzug an. Dann fönte sie sich die Haare, schminkte sich und beschloss, den Kaffee unterwegs zu besorgen, um noch ein bisschen mehr Zeit für die Vorbereitung des Meetings zu haben. Nina nahm sich vor, weniger Alkohol zu trinken und an den nächsten Abenden früher nach Hause zu gehen, damit ihr solche Filmrisse nicht mehr passierten.
Im Radio lief »Jingle Bells«. In der Nacht hatte es zehn Zentimeter geschneit. Der Moderator schwärmte von perfekten Glühwein- und Wintersportbedingungen und erörterte die steigenden Chancen auf weiße Weihnachten. Und Nina dachte mit etwas Wehmut daran, dass sie dieses Jahr nicht mal einen
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