Schneegeflüster
Adventskranz hatte. Aber wozu auch. Die Vorweihnachtszeit war in der Agentur die stressigste Zeit des Jahres, und an den Wochenenden gab es sowieso niemanden, mit dem sie bei Kerzenlicht und Plätzchen hätte zusammensitzen können. Ihre Freundinnen waren fast alle verheiratet und hatten Kinder, nicht überraschend mit Mitte dreißig, und die wenigen, die wie Nina immer noch solo
waren, steckten genauso im Jobstress wie sie oder verbrachten diese für Singles eher unerfreuliche Zeit des Jahres an thailändischen Stränden.
Nina trug Lipgloss auf, grinste ihr Ebenbild im Flurspiegel an und verließ die Wohnung.
Freitag, 10. Dezember 2010. Sie.
Sie betrat den Coffeeshop, klopfte sich den Schnee vom Mantel und ging direkt zu den Toiletten. Dort betrachtete sie zum ersten Mal ausführlich ihr Spiegelbild. Nicht schlecht, befand sie, glatte blonde Haare, hübsches Gesicht, sportlich-schlanke Figur. Schon bei der waghalsigen Kletteraktion gestern Nacht hatte sich ihr Körper ganz tauglich angefühlt. Joggen und ein bisschen Krafttraining im Fitnessstudio, schätzte sie.
Sie verließ den Toilettenraum, holte sich einen Kaffee und setzte sich in eine Ecke, in der sie ungestört war. Dann nahm sie ein schmales Booklet aus ihrer Tasche, um die Unterlagen zu lesen, die in einer schnörkellosen, schwungvollen Handschrift ausgefüllt waren. In meiner Handschrift, dachte sie und grinste. Sie überflog die persönlichen Daten wie Geburtsdatum, Familienmitglieder, Blutgruppe und Krankheitsgeschichte und prägte sich ein, was für sie im Moment am wichtigsten war.
Arbeitsort: Agentur *wildcard*, München, seit 02/2007
Position: Senior PR Consultant
Sie überlegte. Heute war Freitag.
»Darf ich bitte mal kurz telefonieren? Mein Handy ist kaputt.«
Eine Angestellte des Coffeeshops reichte ihr wortlos das Mobilteil eines Telefons. Sie wählte die Nummer der Agentur *wildcard* und verstellte ihre Stimme, als sie fragte: »Ich habe eine Blumenlieferung für Frau Steiner, bin aber momentan noch im Norden der Stadt unterwegs. Bis wann kann ich sie denn im Büro antreffen, um die Blumen abzugeben?«
Nach dem Telefonat verließ sie zufrieden den Coffeeshop und beschloss, den freien Tag zu genießen. Bald würde sie nicht mehr so viel Zeit haben, sondern einen tollen Job mit einem noch besseren Jahresgehalt.
Samstag, 11. Dezember 2010. Nina.
Nina wachte früh auf und hatte dennoch sofort ausgesprochen gute Laune. Der gestrige Tag war trotz ihres kleinen Katers optimal verlaufen. Sie war sehr zufrieden mit sich selbst. Am Freitagabend war sie mit den Kollegen aufs Wintertollwood gegangen, sie hatten Feuerzangenbowle getrunken, Crêpes gegessen, und zum ersten Mal in diesem Jahr hatte Nina so etwas wie Vorweihnachtsstimmung verspürt. Nach der zweiten heißen Bowle hatte sie sich nicht, wie sie es normalerweise getan hätte, von ihrem Kollegen eine dritte mitbringen lassen, sondern sich freundlich, aber bestimmt von den anderen verabschiedet. »War ne harte Woche«, hatte sie gesagt und sich nicht mehr zum Bleiben überreden lassen. Und dann war ihr persönliches Weihnachtswunder passiert …
Als sie durch den Schnee der eisigen Dezembernacht über die Theresienwiese zur U-Bahn stapfte, fühlte sie sich für einen kurzen Moment glücklich, wunschlos glücklich, und sie war selbst erstaunt darüber. Ich brauche eben keinen Mann, kein Kind und kein Haus, um glücklich zu sein,
dachte sie, und überhaupt, das Glück kommt sowieso aus einem selbst heraus. Dann rutschte sie auf einer unter dem Schnee versteckten gefrorenen Pfütze aus und wäre hingefallen, hätten sie nicht im letzten Moment zwei Arme aufgefangen. Wo der Besitzer der Arme herkam, konnte Nina nicht sagen, denn sie hätte schwören können, auf dem kleinen Stück zwischen Festivalgelände und U-Bahn-Station ganz alleine gewesen zu sein.
»Hey, du schon wieder! Alles okay?«, fragte eine tiefe, aber sanfte Stimme, und sie klopfte sich den nicht vorhandenen Schnee von ihrem Mantel, kam sich blöd vor und stammelte nur: »Äh, ja, ja …«
»Schönen Abend noch!«, sagte die Stimme und verschwand mit ihrem Besitzer Richtung U-Bahn.
»Danke!«, rief Nina ihm hinterher und beobachtete, wie er noch kurz vor einem Glaskasten mit Fahrplänen stehen blieb und etwas nachsah, bevor er sich noch einmal umdrehte, ihr zuwinkte und mit der Rolltreppe im Untergrund verschwand. Nina fühlte sich seltsam. Es war ein Gefühl, das sie nicht einordnen konnte, weil sie es noch nie
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