Schneegeflüster
sie nicht einordnen konnte. Sie hatte Pläne, Ziele, Strategien, sie konnte ihren Verstand einsetzen und verfügte auch über Empathie, die sie befähigte, die Handlungen anderer Menschen und vor allem die von Nina vorauszuahnen. Skrupel waren ihr fremd, und sie fühlte sich stark und überlegen. Die Welt stand ihr offen und das ganze schöne Leben, das Nina ihr vorbereitet hatte. Sie musste nur noch ihr Ebenbild beiseiteschaffen, dann war alles perfekt. Und nun das - ein Gefühl von Schwäche, das nicht einmal unangenehm war. Der Wunsch, weich zu werden, sich fallen zu lassen, einem anderen die Führung zu überlassen. Jemandem mit braungrünen Augen, der immer noch da stand und lächelte und schaute. Das Verlangen, die Arme dieses Mannes um sich zu spüren, seine Hände auf dem Rücken, seine Lippen auf dem Gesicht, sein Gewicht auf dem Körper, seine Haut auf …
Stopp, wies sie sich selbst zurecht. Nun werd mal nicht sentimental. Das kitschige Liebeszeug ist Ninas Baustelle, nicht deine. Du willst Geld, Macht und einen tollen Job. Und du bist ganz nah dran. Das wirst du dir durch ein paar Augen mit ungewöhnlicher Farbe nicht verderben lassen.
Sie drängte sich an ihm vorbei ins Freie. Dabei streiften ihre Hände einander. Sie lief los, kämpfte sich durch die Menschenmassen zum Ausgang und rannte durch den frisch gefallenen Schnee, bis ihre Lunge so sehr schmerzte, dass sie eine Pause machen musste. Sie brach ein Stück Eis von einem Fahrradständer und rieb damit so lange über die Hand, bis das Brennen betäubt war.
Sonntag, 12. Dezember 2010. Nina.
So schnell kann das gehen, dachte Nina und blickte ungläubig auf ihren hölzernen Esstisch, auf dem ein großer, schlichter Adventskranz mit cremefarbenen Kerzen prangte. Jens zündete gerade die dritte an. Vor zwei Tagen war ich noch wehmütig, weil ich niemanden hatte, mit dem ich Advent feiern konnte, und jetzt habe ich einen Freund und einen Adventskranz. Jens hatte ihn heimlich besorgt und genau ihren Geschmack getroffen.
»Das wird mein schönstes Weihnachten, seit ich damals das große Playmobil-Haus geschenkt bekommen habe«, flüsterte sie Jens ins Ohr, und statt einer Antwort nahm er sie in den Arm und küsste sie. Dann fasste er ihre Hand und zog sie sanft Richtung Schlafzimmer. »Komm …«
»Aber die Kerzen …«, gab Nina zu bedenken.
»Ja, du hast recht«, sagte er und löste den Gürtel ihres Bademantels, glitt mit seinen Händen darunter und begann, ihren Körper zu streicheln. Sie liebten sich auf dem Parkettboden
im Schein des Adventskranzes, und Nina dankte dem Schicksal, das ihr eingeflüstert hatte, am Freitag nach der zweiten Feuerzangenbowle nach Hause zu gehen und in Jens’ Arme zu stürzen.
Montag, 13. Dezember 2010. Nina.
Die Welt war immer noch weiß. Anders als in den Dezembermonaten der vorhergegangenen Jahre blieb der Schnee in diesem Jahr liegen und wurde sogar jede Nacht noch ein bisschen mehr. Die braunen Ränder und gelben Löcher, die Großstadtschnee normalerweise innerhalb weniger Tage hässlich aussehen lassen, wurden von immer neuen Schichten Pulverschnee überdeckt, sodass die Stadt mit ihren Sternen an den Laternen und Hauswänden aussah wie aus dem Prospekt eines amerikanischen Reiseveranstalters. Nina fuhr mit der Straßenbahn ins Büro und konnte sich nicht sattsehen an der winterlichen Pracht. Alles, was sie in den Vorjahren als Kitsch und Kommerz abgetan hatte, erschien ihr nun schön und feierlich. Die Dekorationen in den Schaufenstern, die vielen Christbäume mit Lichterketten, ja sogar »Jingle Bells« und »Last Christmas«, die ständig im Radio liefen.
Seit Jens in Ninas Leben war, war alles anders, sah alles schöner aus, schmeckte alles besser und intensiver. Und auf einmal hatte Nina unendlich viel, worauf sie sich freuen konnte. Christkindlmarkt, Lebkuchen essen, Geschenke kaufen, die Wohnung schmücken, Pläne für die freien Tage schmieden - all das war wunderbar, weil sie es mit ihm zusammen machen konnte.
»Na, du strahlst aber, hattest du ein schönes Wochenende?«, begrüßte Julia sie.
»O ja«, sagte Nina nur und lächelte.
»Übrigens, tut mir leid, dass ich am Freitag so einen Stress gemacht habe wegen der Weihnachtskarten«, sagte Julia, »die hätten locker auch noch heute geschrieben werden können. Du hättest nicht extra am Wochenende ins Büro kommen müssen.«
»Am Wochenende ins Büro?«, wiederholte Nina und dachte daran, was sie alles am Wochenende gemacht
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