Schneegeflüster
hatte und dass ihr letzter Gedanke dabei der Arbeit gegolten hatte.
»Aber lieb von dir, ich hab die Karten heute früh gleich mit der ersten Fuhre in die Post gegeben«, sagte Julia und wandte sich wieder ihren E-Mails zu.
Nina wunderte sich und ging in ihr Büro. Der Stapel mit den Weihnachtskarten war tatsächlich verschwunden. Mit gerunzelter Stirn fuhr sie den Rechner hoch und wartete, bis das E-Mail-Programm gestartet hatte. Es lud die neuen Nachrichten und zeigte vier ungelesene an. Vier? An einem Montag um halb zehn? Nina wunderte sich noch mehr. Hatte sie aus Versehen den Autoresponder aktiviert? Sie klickte im Mailprogramm auf den Ordner »gesendet« und erstarrte. Mit zitternden Fingern und flauem Magen las sie die letzten verschickten Nachrichten. Es waren um die zwanzig geschäftliche Mails und zwei private, und sie waren alle von ihr persönlich beantwortet worden. Alles war richtig und normal. Bis auf das Sendedatum der Mails. Bei allen stand »Sonntag, 12. Dezember 2010« und eine Uhrzeit am späten Nachmittag. Ein Computerfehler, eine falsch eingestellte Zeit, versuchte Nina sich selbst zu beruhigen, wer außer dir selbst sollte sonst deine E-Mails beantworten, und dann auch noch mit dem korrekten Inhalt? Die Vorgänge kennt niemand so genau, dass er das tun könnte. Sie verschickte eine Testmail
an sich selbst. Nach ein paar Sekunden kam sie an. Mit richtigem Datum und korrekter Zeitangabe.
Dienstag, 14. Dezember 2010. Nina.
»Was suchst du eigentlich die ganze Zeit?«, wollte Jens wissen. Nina war seit einer Stunde dabei, ihre sämtlichen Handtaschen auszuleeren, sie durchwühlte Schubladen, durchforstete Kartons und wurde immer nervöser.
»Ach, einen wichtigen Vertrag, was aus der Arbeit«, murmelte Nina und hasste sich selbst dafür, dass sie ihn belog. So schnell. Schon am vierten Tag. Aber sie konnte ihm ja schlecht die Wahrheit sagen. Oder vielleicht doch? Bevor es zu spät war?
»Jens, ich habe mich vor einer knappen Woche klonen lassen. Ein Taxifahrer hat mich irgendwohin gebracht, in eine Art Praxis, und dort muss es passiert sein. Ich weiß nicht wie und hielt es bis vor Kurzem für einen Traum, aber mittlerweile habe ich Grund zur Annahme, dass ein Klon von mir durch die Stadt läuft, in meiner Lieblingsbäckerei Rosinensemmeln kauft und für mich meine Weihnachtskarten und E-Mails schreibt. Und ich finde diese verdammte Klonvereinbarung nicht mehr, die ich im Taxi in der Hand hatte und in der hoffentlich steht, wie ich dem Spuk ein Ende bereiten kann …«
Nein. Das konnte sie zu Jens unmöglich sagen. Er würde sie mindestens für durchgeknallt halten. Da traf sie nach drei langen Jahren des Singledaseins und der desaströsen Männergeschichten endlich einen Mann wie ihn, und dann sollte sie ihn schon am vierten Tag wieder vergraulen, weil er sie für eine Spinnerin hielt? Nein.
Das Pamphlet blieb unauffindbar. Und vielleicht besaß sie es ja auch gar nicht, vielleicht hatte sie es im Taxi liegen lassen oder in der Praxis. Und selbst wenn sie es finden würde - es war nicht gesagt, dass darin stand, wie sie das Ganze rückgängig machen konnte.
»Nina, es hat doch keinen Zweck«, sagte Jens, der ihr beim Suchen geholfen hatte. »Kein Schriftstück ist unersetzlich, lass dir den Vertrag doch einfach neu zusenden, geht das nicht?«
»Ich glaube nicht …«
»Schau, wir haben jetzt deine ganze Wohnung auf den Kopf gestellt. Hier ist dein Vertrag nicht. Ich helfe dir gerne morgen wieder, und wir überlegen zusammen, wie wir das lösen können, aber lass uns für heute Schluss machen. Komm, ich lad dich zum Essen ein, was hältst du von thailändisch?«
Allein Jens’ Stimme hatte eine ungemein beruhigende Wirkung auf Nina. Sie atmete tief durch und beschloss, morgen weiterzugrübeln. Eng umschlungen stapften sie durch die eisige Winternacht bis zum Thailänder an der Ecke, und nach einem roten Curry und drei Singha-Bier war Nina bereit, ihr Problem für diesen Abend beiseitezuschieben.
Vielleicht war doch alles nur Einbildung und eine Verkettung seltsamer Zufälle, dachte sie und sah aus dem Fenster des Restaurants in die schwarze Nacht. Ihr Spiegelbild blickte zurück und lächelte. Nein, es lächelte nicht. Es grinste, bis es nur noch eine verzerrte Fratze war. Dann schlug es den Mantelkragen hoch und verschwand in der Dunkelheit.
Mittwoch, 15. Dezember 2010. Nina.
»Wir könnten doch über Weihnachten wegfahren, was meinst du?«, sagte Nina beim
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