Schneegeflüster
zuvor verspürt hatte. Sie konnte es nicht benennen und nicht einmal genau sagen, ob es gut war oder schlecht. Auf jeden Fall war es intensiv.
Um irgendetwas zu tun, zündete Nina sich eine Zigarette an und blieb wie er vor dem Glaskasten mit den Fahrplänen stehen. Der Inhalt des Kastens war nicht zu erkennen, denn das Glas war mit Eis überzogen wie die Scheiben eines Autos, das im Winter draußen parkt. Und auf dem Glas stand geschrieben:
Don’t fall. Call.
Und dann eine Handynummer, deren letzte Ziffer nicht
mehr gut zu lesen war, weil sie schon etwas zerlaufen war. War es eine 8 oder eine 6?
Nina zögerte nicht lange und tippte die Nummer mit der 8 am Ende in ihr Handy. »Der gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar«, meldete eine Frauenstimme, und Nina beendete lächelnd den Anruf. Manchmal hatte es eben doch sein Gutes, dass es in der Münchner U-Bahn immer noch keinen flächendeckenden Mobilfunkempfang gab.
Jetzt war es acht Uhr morgens, es dämmerte gerade und Nina wünschte sich, die Zeit anhalten zu können. Noch war alles offen. Noch wusste sie nicht, ob dieser Mann sie zurückrufen würde oder nicht, denn er hatte ihren Anrufversuch und damit Ninas Nummer sicher als SMS gemeldet bekommen. Noch war nicht klar, ob sie sich in ihn verlieben würde und er sich in sie, ob sie miteinander glücklich werden, heiraten, Kinder bekommen und aufs Land ziehen oder sich nach ein paar Jahren hoffnungslos zerstreiten würden. Noch wusste Nina nicht, wie sich sein Körper auf ihrem anfühlte, ob er gut küssen konnte, ob er witzig war oder ein furchtbarer Langweiler. Noch wusste sie nicht einmal, ob sie ihn überhaupt je wiedersehen würde. Und sie genoss diese Ungewissheit, das Kribbeln im Bauch und in den Adern, das Gefühl, das Leben wieder zu schmecken, so intensiv, dass es fast nicht auszuhalten war.
Zwei Stunden später verließ Nina ihre Wohnung und stapfte durch die weißen und leisen Straßen - in der Nacht hatte es noch einmal kräftig geschneit - zu ihrem Lieblingsbäcker, um sich ein Croissant und eine Rosinensemmel zu kaufen.
»Ach, hallo«, begrüßte die Verkäuferin sie freundlich und kommentierte dann Ninas Bestellung: »Da ham’s recht, a zweit’s Frühstück kann nie schaden!« So spät ist es doch auch noch nicht, dachte Nina, sagte aber nichts, lächelte nur und trat wieder auf die Straße. Dann klingelte ihr Handy.
»Ja?« Als ob sie nicht genau wüsste, wer da anrief.
»Hallo. Guten Morgen!«
Nina betete innerlich, er möge jetzt nicht fragen, ob sie gutes Schuhwerk trage oder jemanden brauchte, der sie vor Stürzen bewahrte.
»Ich heiße Jens«, sagte die tiefe, aber sanfte Stimme, »und du?«
»Nina«, sagte Nina und freute sich. »Hast du schon gefrühstückt?«
»Nein, aber ich wollte dich gerade dazu einladen.«
»Prima, ich steh eh grad noch vorm Bäcker, dann hole ich noch ein bisschen mehr«, hörte sie sich sagen, und erst dann fiel ihr ein, dass er vielleicht Frühstücken in einem Café gemeint haben könnte. Zu spät. Egal. Sie hielt die Luft an.
»Perfekt. Bis gleich, ich freu mich. Sehr …«, sagte er und nannte ihr eine Adresse in der Maxvorstadt.
Mit hämmerndem Herzen betrat Nina erneut die Bäckerei, kaufte noch eine Rosinensemmel und dazu eine Vollkornsemmel, falls Jens morgens nicht so gerne Süßes aß.
»Aller guten Dinge sind drei!«, lachte die Verkäuferin und packte die Backwaren in eine Papiertüte.
Samstag, 11. Dezember 2010. Sie.
Sie wachte früh auf und hatte ausgesprochen schlechte Laune. Der gestrige Tag war nicht optimal verlaufen. Sie war sehr unzufrieden mit sich selbst.
Gegen achtzehn Uhr hatte Nina planmäßig im Kreise ihrer Kollegen die Agentur verlassen und war mit ihnen zum Wintertollwood aufgebrochen. Sie war ihnen unbemerkt gefolgt, was kein Problem gewesen war bei dem Gedränge, das an diesem Vorweihnachtsabend in der Stadt herrschte. Eine einfache Cordmütze, tief ins Gesicht gezogen, hatte genügt, damit niemandem die Doppelung auffiel.
Zunächst hatte alles geklappt, sie hatte Nina und ihre Kollegen am Feuerzangenbowle-Stand durch eine Holzwand hindurch ungestört belauschen können und viele wertvolle Informationen gesammelt. Bis er auf einmal vor ihr stand. Dieser Mann, der sie einfach nur mit seinen grünbraunen Augen ansah und damit auch nicht aufhörte, als sie ihn anherrschte: »Hey, was glotzt du so? Ist was?«
Er hatte gelächelt und sie weiter angeschaut, und sie hatte etwas gefühlt, das
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