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Schneegeflüster

Titel: Schneegeflüster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind , Rebecca Fischer , Steffi von Wolff , Andrea Vanoni
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»Ich habe ja gar nichts für dich!«
    »Und die neue Aktentasche?«
    Emmis Miene hellte sich auf. »Freust du dich?«
    »Ja.« Vor vierzig Jahren hatte sie ihn damit überrascht. Sie blinzelte unsicher. »Und ich hab die Perlenkette bekommen?«
    »Ja.« Sie trug sie wie stets um den Hals. Seit es ihr nicht mehr gut ging, bestand sie jeden Tag darauf, sie anzulegen. Schon lange kamen ihre Finger mit dem Verschluss nicht mehr zurande. Erst hatte er ihr dabei helfen müssen, nun taten es die Schwestern. »Und eine schöne Strickjacke.«
    Sie murmelte ein paar unverständliche Silben.
    Er beugte sich vor und zeichnete ein Kreuz auf Emmis Stirn. So wie seine Mutter es für ihn getan hatte, als er noch ein kleiner Junge war. So wie Emmi es bei ihren Kindern gemacht hätte, wären ihnen welche geschenkt worden.
    »Bleib gesund, Emmi. Schlaf gut«, murmelte er.
    »Kann ich nicht mitkommen?«, flüsterte sie.
     
    Es war später geworden als sonst. Die gewohnte S-Bahn hatte er verpasst. Der Schnee fiel jetzt dichter. Arthur ging vorsichtig. Ihm war kalt.
    Er musste ab und zu stehen bleiben, der Weg war glatt
und beschwerlich. Vom Heim bis zur S-Bahn-Station brauchte er nur ein kurzes Stück zu laufen. Weiter war die Strecke, die draußen in der Gartenstadt vor ihm lag. Zum Glück hielt meistens jemand aus der Nachbarschaft mit dem Auto neben ihm an und forderte ihn auf einzusteigen. Zumindest an Werktagen. Arthur selbst fuhr nicht mehr. Und ein Taxi leistete er sich nur im Notfall.
    Am Bahnsteig sank er trotz der Kälte erst einmal auf eine Bank, um sich auszuruhen. Er rang nach Luft. Seit wann strengte das Gehen ihn dermaßen an? Es war, als lastete etwas auf seinem Brustkorb. Allmählich kam er wieder zu Atem. Er raffte sich auf und trat zum Fahrplan. Die Schrift war kaum lesbar. Es dauerte eine Weile, ehe ihm aufging, dass dies an seinem Augenlicht lag, nicht an mangelhafter Beleuchtung. Noch ehe er die Abfahrtszeit herausfinden konnte, fuhr die S-Bahn ein. Müde ließ er sich im Wagen auf einem leeren Sitzplatz nieder.
    Die Tunnel mochte er nicht. Erst wenn nach rund zwanzig Minuten die Bahn wieder oberirdisch fuhr, so wie früher der Zug, verlor sich das unbehagliche Gefühl, das ihn erfasste, wenn er durch die Scheiben in die Dunkelheit sah.
    Trotz Heiligabend war die Bahn voller Menschen. Ein dicker Mann zwängte sich mit einem Christbaum herein. Es war ein großer Baum, und der Mann schnaufte heftig, als er seine Last endlich auf dem Boden absetzen konnte.
    In all ihren Ehejahren hatte Arthur jedes Mal zu Weihnachten einen Christbaum besorgt. Einmal hatte er erst zu Hause bemerkt, dass dem dürren Bäumchen auf einer Seite sämtliche Äste fehlten. Emmi war bei dem Anblick in Gelächter ausgebrochen. Sie lachte, bis sie einen Schluckauf bekam. Aber aufgestellt hatten sie ihn trotzdem.

    Emmi grämte sich nie. Sie hatte die Gabe, die Dinge zu nehmen, wie sie waren. Wenn etwas ihr nicht gefiel, ignorierte sie es. So war sie meistens glücklich gewesen. Und Arthur hatte feststellen dürfen, dass Glück ansteckend war. Er liebte Emmi. Er hatte sie immer geliebt. Vor mehr als sechzig Jahren waren sie sich begegnet. Arthur hatte für seine Arbeit in der Bank einen Anzug gebraucht und wollte Sakko und Hosen seines Vaters, der aus dem Krieg nicht heimgekehrt war, umändern lassen. Die Schneiderin war Emmi. Reizend war sie gewesen, blond, zierlich, blauäugig - und derart schusselig, dass sie ihn bei der ersten Anprobe immer wieder mit Stecknadeln stach. Doch er hielt tapfer den Mund. Dafür schenkte sie ihm zum Abschied ihr strahlendstes Lächeln. Und als er den Anzug zum ersten Mal trug, hatte er in der Jackentasche ein Sträußchen Vergissmeinnicht gefunden.
    Eine junge Frau mit einem Kind setzte sich auf die gegenüberliegende Bank. In ihr hellblondes Haar war eine unschöne rosa Strähne gefärbt. Sie war stark geschminkt, trug einen zu dünnen Mantel und leichte, für die Witterung ungeeignete Stiefel. Ihre billige Handtasche und zwei große Einkaufstüten hielt sie mit einer Hand fest an sich gepresst, die andere Hand ließ der kleine Junge nicht los. Er wenigstens war mit einem Anorak, Handschuhen, Mütze und dicken Winterstiefelchen ausreichend warm angezogen. Seine Aufmerksamkeit galt einer der Tüten, die aus einem Spielzeuggeschäft stammte. Arthur fragte sich, ob die Mutter dem Buben wohl je vom Christkind erzählt hatte.
    Die Türen hatten sich geschlossen, und als die Bahn wieder anfuhr, bemerkte Arthur die

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