Schneegeflüster
sich. Es war nass, und jetzt spürte er die Kälte auch wieder. Er durfte hier nicht einschlafen! Er nahm all seinen Willen zusammen, griff nach den Streben des Gartentors neben sich und zog sich mühsam daran empor. Endlich stand er aufrecht, vor Schwäche zitternd. Keuchend schleppte er sich weiter. Allmählich ging es ihm besser.
Doch der Weg wirkte auf einmal verändert.
Auf der Straße war nur noch eine Fahrspur geräumt, der Gehsteig nicht auszumachen. Ringsum war alles tief verschneit. Bei Arthurs Aufbruch zu Mittag waren Dächer und Rasen nur leicht überzuckert gewesen. Nun lagen dicke Schneepolster auf Mauern und Zäunen. Er wunderte sich. Die künstlichen Kerzen, die um diese Zeit in fast jedem Garten einen Nadelbaum schmückten, ausgerechnet an diesem Heiligen Abend brannten sie nicht. Auch fehlten die Lichtergirlanden, die Sterne, die blinkenden Rentiere. Oder war alles unter dem plötzlichen Schnee verschwunden?
Manche Häuser erschienen ihm fremd. Aber das Straßenschild stimmte. Wie konnte es sein, dass dort, wo vor einigen Jahren die neuen Reihenhäuser gebaut worden waren, an diesem Abend nichts als Buschwerk und Schneewehen die Straßen säumten? Verwirrt blickte Arthur sich um. Weiter hinten erhob sich, wie früher einmal, ein Wäldchen. Zu der Zeit, als Emmi und er in ihr Haus eingezogen waren, hatten sie in dem Gehölz nach Tannenzapfen, Pilzen und Walderdbeeren gesucht.
Träumte er? Nein. Er roch kalte Schneeluft, fror an Händen und Füßen und spürte, wie hungrig er war. Was war mit ihm? Erging es ihm etwa wie Emmi? War er auf einmal nicht mehr in der Lage, die Gegenwart wahrzunehmen und von seinen Erinnerungen zu trennen? Konnte so etwas von einem Augenblick auf den anderen geschehen? Bei dem Gedanken stieg Angst in ihm auf.
Er zwang sich, den vergangenen Tag zu rekapitulieren. Er wusste noch, was er gefrühstückt hatte und dass seine Nachbarin Gabi Bauer wie stets am Vormittag bei ihm geläutet hatte. Ihre Kinder hatten im Garten laut herumgetobt. Er hatte ein paar Telefonate geführt und sich zu Mittag eine
Suppe gekocht. Dann war er wie jeden Tag aufgebrochen. Zu Emmi.
Nein. Er war nicht plötzlich verwirrt oder dement. Nur müde und unaufmerksam. Er hatte sich wohl in den Vorortstraßen verlaufen.
Doch diese alten Villen waren ihm wieder vertraut. Gedämpft hörte er Stimmen, die Weihnachtslieder sangen. Nirgendwo flackerte hinter den Fenstern das Blau eines Bildschirms. Stattdessen geschlossene Vorhänge, dahinter glomm warmes rötliches Licht.
Arthur stolperte weiter. Dort vorn, endlich, befand sich die ersehnte Straßenkreuzung. Noch ein paar hundert Meter, dann war er zu Hause. Doch wo war die neue Garage geblieben, die sich die Müllers in den Garten gesetzt hatten? Die alten Bäume, die zu seinem Schmerz vor zwei Jahren gefällt worden waren, standen wieder.
Der schmale Pfad zu seiner Haustür war sauber geräumt. Mit klammen Fingern schloss er auf.
Im Haus war es warm. Schon im Flur roch es köstlich nach festlichem Essen, und in den Duft mischte sich das feine Aroma der Lebkuchen, die Emmi immer zu Weihnachten buk.
Ihr Mantel hing an der Garderobe. Ihm wurde schwindelig. Unsicher nahm er den Hut ab. Schneewasser tropfte auf die gescheuerten Dielen, die schon vor Jahren durch Laminat ersetzt worden waren. Und lag der bunte Flickenteppich nicht längst zerschlissen im Kellervorraum?
Auf dem Schränkchen stapelten sich altmodische Weihnachtskarten. Er griff danach, legte sie wieder an ihren Platz. Wie immer stand die Tür zur Küche offen. Erstaunt
sah Arthur hinein. Tatsächlich, auf dem Herd brutzelte etwas. Und an der Ofentür … War das ein Schürhaken? Arthur musterte entgeistert den alten Küchenschrank. Wo kam all das her? Es war nicht zu begreifen.
Er ging ins Wohnzimmer. In seiner Mitte stand ein geschmückter Tannenbaum mit Wachskerzen. Glanzpapiersterne, Christbaumkugeln und Lametta glitzerten, und er war reich mit Zapfen und Glöckchen aus buntem Stanniolpapier behängt. Ein Holzfeuer brannte im Ofen. Rechts und links davon standen wie früher die Lehnstühle. Der Tisch in der Ecke war bereits festlich gedeckt. Hier hatten Emmi und er an Feiertagen immer gegessen.
Wie konnte das sein? Vor einer Stunde erst hatte er sich doch im Pflegeheim schweren Herzens von ihr losreißen müssen … War so etwas möglich? Er musste sich täuschen. Das konnte nicht Wirklichkeit sein. Verstört suchte Arthur nach einem Taschentuch. Dabei stieß er in der
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