Schneegeflüster
ihre Blicke begegneten sich.
Er sagte: »Ich wünsche mir, dass wir immer zusammen sein werden.«
Emmi lächelte glücklich. Was sollte sie trennen?
Gabi Bauer läutete zum dritten Mal, aber im Haus blieb alles still. Es war kalt und schneite. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Arthur einen Spaziergang machte. Für den Weihnachtsgottesdienst war es noch zu früh. Sie nahm die Plätzchentüte, die sie ihm bringen wollte, in die andere Hand und suchte mit der Rechten in der Manteltasche nach seinem Haustürschlüssel. Vor drei Jahren hatte er ihn ihr gegeben und sie gebeten nachzusehen, wenn sich drinnen nichts rührte. Damals hatte er Emmi noch zu Hause gepflegt.
Gabi klopfte noch einmal laut an die Tür, dann sperrte sie auf. Arthurs Winterstiefel standen im Flur.
»Arthur?«
Keine Antwort. Beunruhigt trat sie in die Küche. Geschirr stand in der Spüle. Zwei Weingläser, aber keine Frühstückstasse. Gabi ging hinüber ins Wohnzimmer.
Der alte Mann saß friedlich in seinem Lehnstuhl. Es sah aus, als schliefe er. Im ersten Augenblick war sie erleichtert. Doch im selben Moment wurde ihr klar, dass etwas nicht stimmte. Die Plätzchentüte glitt ihr aus der Hand.
Arthur atmete nicht. Sein Gesicht war verändert. Gabi überwand sich, ihn anzufassen. Er fühlte sich kalt an. Seine Hand war ohne Leben und starr. Er war tot.
Auf dem Sessel neben ihm lag ein filigraner Papierstern, auf dem Teppich ein altes Buch, als wäre es ihm aus der Hand gefallen. Vielleicht war er einfach eingeschlafen. Ein gnädiger Tod.
Doch Emmi würde vergeblich auf Arthur warten…O Gott.
Mechanisch ging Gabi zurück in die Diele, wo das Telefon stand. Sie wollte gerade den Hörer abnehmen und wählen, als es anfing zu läuten. Sie fuhr zusammen. Mit zittriger Stimme meldete sie sich.
Es war das Pflegeheim. Eine Schwester wollte Arthur sprechen.
Gabi schluckte und sagte: »Das geht leider nicht. Ich wollte gerade den Hausarzt anrufen …«
»Dann darf ich es Ihnen sagen. Würden Sie es ihm bitte so schonend wie möglich beibringen? Er war ja gestern noch bei ihr, und nichts hat darauf hingewiesen. Es tut uns allen sehr leid, aber … seine Frau ist heute Nacht völlig unerwartet im Schlaf verstorben.«
Gabi wandte sich um. Ihr Blick fiel auf den roten Papierstern, und ganz kurz glaubte sie, Emmi und Arthur nebeneinander zu sehen. Sie schienen zu lächeln.
GABI HIFT
Jüdische Weihnachten
Ich bin schuld an Weihnachten. Die Legende besagt, dass ich es im Alter von vier Jahren mit terroristischen Mitteln erzwungen habe. Es ist eine der Geschichten, die sich meine Eltern über mich erzählen. Sie handeln alle von einem monströsen Kind, das seinen Willen immer und überall durchsetzt, mit Hilfe seiner Furchtlosigkeit, seiner überragenden Intelligenz und seines grenzenlosen Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten. Solche Geschichten über mich gibt es nur bis zu der Zeit, als, aus der Sicht meiner Eltern, mein Charakter im Zeitraffer zerbröselte wie ein Vampir, dem man einen Pfahl ins Herz gestoßen hat - vermutlich passierte das zugleich mit meinem Eintritt in die Pubertät. Danach folgte auf zehn Jahre Weihnachten die trübe Ära, in der Weihnachten bei uns nicht mehr gefeiert wurde. Sie dauert immer noch an. Natürlich ist es etwas ganz anderes, Weihnachten nicht mehr zu feiern, nachdem man es eine Weile getan hat, und so bin ich auch noch schuld daran, dass in meiner Familie keiner mehr am 24. Dezember seines Lebens froh werden kann. Ich
fürchte, die riesige und enorm teure Torte, die ich für das heutige Nichtweihnachtsessen bestellt habe, wird das auch nicht ändern.
Der Gründungslegende zufolge soll ich mich im Jahr 1970 auf dem Heimweg vom Kindergarten von der Hand meiner Mutter losgerissen haben, soll zum Weihnachtsbaummarkt rund um den Hochstrahlbrunnen hinübergelaufen sein und versucht haben, eine mannsgroße Tanne wegzuschleppen. »Nein, größer! Viel größer!«, korrigiert meine Mutter. »Drei Meter hoch oder mehr, ein riesiger Baum! Der Schwarzenbergplatz ist ja mitten im Botschaftsviertel, da verkaufen sie nicht nur Bäume für normale Leute, sondern auch welche für die Festsäle der Palais, so einer war das!«
»Der Verkäufer war jedenfalls ausgesprochen beeindruckt«, sagt mein Vater, der gar nicht dabei gewesen sein kann, falls die Geschichte überhaupt je stattgefunden hat, was ich bezweifle. »Sie hat ja auch noch laut geweint«, sagt meine Mutter. »Geweint!« Mein Vater schüttelt sich kurz,
Weitere Kostenlose Bücher