Schneegeflüster
neben der Spülung.«
Ich sehe es mir an, es ist eine wunderbar feine Konstruktion. Er muss stundenlang daran gearbeitet haben.
»Meine Tochter wollte unbedingt ein Christkind haben, das absolut nichts mit uns Eltern zu tun hat«, sagt er zu Adam, »und als sie klein war, hat sie alles durchgesetzt, was sie wollte.«
»Ja«, beginnt meine Mutter zu erzählen, »mit vier Jahren ist sie auf dem Rückweg vom Kindergarten zu einem riesigen Christbaum hinübergelaufen …«
»Nicht jetzt, Ruth«, sagt mein Vater, »es ist spät, vielleicht will er die Geschichte ein anderes Mal hören. Wir müssen jetzt ins Bett. Wissen Sie«, sagt er zu Adam, »ich bin ein alter Mann und kann sicher vieles nicht mehr, was Sie können. Aber im Gegensatz zu Ihnen kann ich Erdbeeren essen.« Er lacht zufrieden, nimmt Adams Handgelenk und prüft seinen Puls. »Alles bestens«, sagt er.
»Das war wirklich ein aufregender Weihnachtsabend«, sagt Adam. Wir sitzen in den Schalensitzen einer U-Bahn-Station im Neonlicht. »Dein Vater hat mir das Leben gerettet.«
»Nachdem er vorher versucht hat, dich umzubringen.«
Ein U-Bahn fährt ein, aber keiner von uns macht Anstalten aufzustehen, sie fährt wieder ab.
»Von dem Jüdischen bei euch habe ich gar nichts gemerkt«, sagt Adam.
»Nein«, sage ich, »davon merkt man nichts.«
»Darf ich dich was Dummes fragen?«
»Okay.«
»Darf ich dich küssen? Das Küssen mit dir, das war ziemlich besonders. Es war nie mehr mit jemandem so toll wie mit dir. Und ich muss schon den ganzen Abend daran denken.«
Ich sehe einer Maus zu, die die Gleise entlangflitzt. Ich denke daran, was mein Vater vorhin zum Abschied zu mir gesagt hat. Er hat auf einmal meine Hand genommen, ich weiß nicht, wann er das zum letzten Mal gemacht hat, ich muss noch ein kleines Kind gewesen sein, und so leise, dass meine Mutter und Adam es nicht hören konnten, zu mir gesagt: »Es ist mir schon klar.«
»Was ist dir klar?«
»Dass es für dich nicht ganz einfach war. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass es so wird, hätten wir vielleicht kein Kind bekommen. Aber man weiß es eben nicht.«
»Dass es wie wird?«
»Dass wir so wenig Besuch haben werden.«
»Heute hattest du ja Besuch.«
»Und das war auch ganz in Ordnung so.«
Ich überlege, ob ich wirklich »danke« gesagt habe, aber wahrscheinlich habe ich es nur gedacht.
»Ja«, sage ich zu Adam, »darfst du.« Und damit er nicht sehen kann, dass mir Tränen übers Gesicht laufen, drücke ich meinen Mund schnell und übergangslos auf seinen Mund, denn ich glaube, das sollte man versuchen, das sollte man auf jeden Fall versuchen, egal was passiert.
NICOLE JOENS
Das kirschrote Kleid
Laura erwartete zu Weihnachten keinen Besuch. Von beißendem Liebeskummer gequält, hatte sie sich dazu verdammt, ihr einundzwanzigstes Fest der Liebe ganz für sich in New York zu feiern. Sie hatte Janis allein zu seiner Familie nach Miami geschickt, um ihn zu bestrafen, denn er hatte ihre Liebe verraten. Auf der feuchtfröhlichen Weihnachtsfeier der Firma, bei der er ein Praktikum machte, hatte ihr Freund vor zwei Tagen eine Kollegin geküsst, die Laura auch noch kannte! Das langbeinige, rehäugige Geschöpf hatte es von Anfang an auf Janis abgesehen gehabt. Laura tobte innerlich vor Wut. Es half nicht das kleinste bisschen, dass er ihr seinen Ausrutscher noch in derselben Nacht reumütig gestanden hatte, natürlich auf Vergebung hoffend. Doch er war ihr zu Beginn ihrer Beziehung vor zwei Jahren schon einmal untreu gewesen. Ausgeschlossen, dass sie ihm diesmal erneut vergeben konnte. Es war aus und vorbei. Sie würde sich von Janis trennen. Aber bei dem Gedanken, Janis zu verlieren, zog sich Lauras verletztes
Herz schmerzhaft zusammen. Sie liebte Janis mit jeder Faser ihres Seins. Ohne ihn weiterzuleben, das konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen.
Nachdenklich hob sie das rot-weiß gefleckte Kätzchen auf, das ihr miauend um die Füße strich, und begann es zu streicheln. Laura hatte die drei kleinen Katzen über die Feiertage zur Pflege aufgenommen, um sich von ihrem Kummer abzulenken. Ob Janis am Pool in Miami wohl in diesem Moment ebenfalls an sie dachte? Laura öffnete kurz das Fenster, um den stickigen Heizungsmief in der kleinen Wohnung mit frischer Luft anzureichern. Es war eisig kalt in Manhattan. Ihre kleine Wohnung im East Village, einem mittlerweile, im Jahr 1983, berüchtigten Viertel, lag in der Fifth Street zwischen der Avenue A und der Avenue B. Es war nicht
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