Schneegeflüster
gerade die sicherste Gegend, aber viele Studenten lebten hier, weil die Mieten erschwinglich und der Stadtbezirk jung und aufregend war. Laura und Janis studierten und machten beide nebenbei Praktika. Laura wollte Filmemacherin werden. Janis stand, der Tradition seiner Familie folgend, vor dem Abschluss seines Managementstudiums und hatte bereits ein lukratives Stellenangebot. Beim Gedanken an seinen traurigen Abschied stiegen Laura die Tränen in die Augen. Er hatte sie heftig an sich gedrückt und sie um eine letzte Chance gebeten. Aber Laura war hart geblieben und hatte ihm nicht einmal einen Abschiedskuss gegeben. Im Gegensatz zu Janis war sie kein kontaktfreudiger Schmetterling, sondern ernst und zurückhaltend. Sie sei eine Frau für den zweiten Blick, hatte ein Freund einmal über sie gesagt. Janis hingegen, mit seinen verführerischen hellbraunen Augen, den schwarzen Locken und den vollen Lippen, war der Schwarm sämtlicher Frauen in ihrem Umfeld.
Sein stolzes Kinn drückte das Selbstbewusstsein der Reichen und Schönen aus. Janis kam aus gutem Hause. Seinem Vater gehörten Anteile einer angesehenen Reederei in Athen, und nur Laura zuliebe lebte er in New York ein bescheidenes Studentenleben. Um mit Janis mithalten zu können, arbeitete Laura neben dem Studium als Übersetzerin. Aber ohne ihre geliebte Tante Carmen, die Laura mit ihren Beziehungen in New York geholfen hatte und auch ihren Mietanteil bezahlte, wäre Laura finanziell von Janis abhängig gewesen. Mit einem Mal wund vor Sehnsucht nach Tante Carmen schaute Laura auf die menschenleere Fifth Street hinunter. Trostlos würde dieses Weihnachten werden. Laura ärgerte sich, dass sie keinen Flug mehr nach München bekommen hatte, wo die Tante sie bestimmt getröstet hätte.
Im geöffneten Fenster erzeugte ihr heißer Atem Wölkchen in der klirrenden Kälte. Auf einmal kniff sie die Augen zusammen. In der Häuserfront auf der gegenüberliegenden Straßenseite gähnten seit dem Brand vor drei Monaten eine Reihe schwarzer Fensterlöcher. Bewegte sich da nicht etwas hinter der Mauer? In diesem Moment bemerkte Laura den Soldaten zum ersten Mal. Zunächst hielt sie ihn für einen Schatten, dann für eins ihrer Hirngespinste. Seit ihrer Kindheit sah Laura gelegentlich Menschen, die bereits tot waren. In ihrer Familie war das nichts Ungewöhnliches, Tante Carmen hatte diese Gabe auch. Laura blickte angestrengt hinüber. Doch, da drüben in einem der ausgebrannten Fenster stand ein Mann in Soldatenuniform. Jetzt steckte er sich gerade eine Zigarette an. Vor Aufregung hörte Laura auf, das Kätzchen zu streicheln. Sie konnte sehen, dass der Soldat beim Rauchen die rechte Hand, bis zum Ellbogen mit
schmutzigen Stoffbahnen bandagiert, mit der Linken festhielt, als hätte er Schmerzen. Sein schmales Gesicht kam ihr merkwürdig bekannt vor. Sie setzte das Kätzchen ab, griff zu ihrer Kamera und zoomte den Mann mit dem Objektiv näher zu sich heran. Die Uniformmütze, die schräg auf seinem Kopf saß, war eindeutig eine Wehrmachtsmütze aus dem Zweiten Weltkrieg.
Tatsächlich kannte sie diesen Mann. Vor allem seine prägnanten Augenbrauen hatte sie schon auf mehr als einem Foto gesehen. Jetzt sah der Soldat ebenfalls hoch zu Laura. Er lächelte in ihre Richtung und grüßte mit der gesunden Hand. Nach einem Moment des Zögerns winkte Laura unsicher zurück. Ihr Herz begann mit einem Mal heftig zu klopfen. Sie wusste genau, wer der Soldat dort drüben war! Er hieß Wolfgang und war Tante Carmens großer Bruder. Wenn er den Krieg überlebt hätte, wäre er Lauras Onkel gewesen. Wolfgangs Foto mit dem Trauerflor hing über dem Bett ihrer geliebten Großmama, solange sie lebte. Seit nunmehr acht Jahren befand sich Wolfgangs Porträt in Tante Carmens Münchner Wohnung an der Wand über der Couch. Was machte Wolfgang bloß in Manhattan? Doch als Laura erneut zu ihm hinübersah, war er verschwunden. Sie musste über sich selbst lächeln. Ihre Fantasie spielte ihr die eigenartigsten Streiche.
Laura schaltete den Fernseher an, um sich abzulenken, und ließ die bunten Bilder der New Yorker Lokalnachrichten auf PBS auf sich einrieseln. Ein Weihnachten ohne Janis im glitzernden Manhattan war eine wirklich beschissene Idee gewesen, dachte Laura, während sie Kehrbesen und Schaufel holte, um die Reste des übel riechenden Katzenfutters zu entsorgen. Aber wäre er jetzt hier gewesen, hätte sie erneut
mit ihm streiten müssen. Allein beim Gedanken an seine ekelhaft präzise
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