Schneegestöber (German Edition)
Verschwinden seiner jüngsten Schwester wußte, weil er die weite Fahrt nach Bath scheute? Jedenfalls entschied er sich, dem Geistlichen einen Brief zu schreiben, und machte sich auf den Weg nach Hempsteade Heath, wo die älteste der Schwestern mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn lebte. Lady Mancroft war ihrem Vater und ihrem Bruder Joseph wie aus dem Gesicht geschnitten. Klein, untersetzt, mit hektischen roten Flecken auf den Wangen. Ein energisches Kinn unter ihrem schmalen, blassen Mund. Nein, sie wisse nicht, wo Silvie sich aufhalte, wurde ihm mit lauter Stimme erklärt. Und ihre Schwester täte gut daran, sich nicht bei ihr blicken zu lassen. Sie hatte Silvie den eindringlichen Rat gegeben, ihn, St. James, zu ehelichen. Schließlich kam dann das Vermögen des Earls den Westbournes zugute, wie sie ungeschminkt verkündete. Es war Silvies gottverdammte Pflicht, die Gelegenheit zu ergreifen, wenn sie sich schon so überraschend bot. Statt dessen habe sie aus irgendwelchen Flausen heraus die Chance in den Wind geschlagen, ihren Geschwistern finanziell unter die Arme greifen zu können.
Bevor sie den Earl fragen konnte, ob er sich nicht dennoch moralisch verpflichtet fühle, einen Scheck zugunsten der Familie Mancroft auszustellen, verließ dieser fluchtartig das Haus. Welche Familie hatte er sich da ausgesucht, um einzuheiraten! Aber Silvie war so ganz anders als ihre Eltern und Geschwister. Sie war bezaubernd, zart und zerbrechlich. In ihrem Aussehen kam sie wohl mehr nach der Mutter, die in jungen Jahren eine sehr hübsche Frau gewesen sein dürfte. Bevor sie durch ihre Heirat mit dem aufbrausenden Earl und die Geburt von sechs Kindern in vierzehn Jahren rasch gealtert war. St. James sah Silvie vor sich: Die langen blonden Locken, im Nackenaufgesteckt, schienen fast zu schwer zu sein für ihren kleinen Kopf. Die dunklen Augen, die stets ernst und ein wenig traurig blickten. Der kleine wohlgeformte Mund, der nie lächelte. Der Earl stutzte: Hatte er eben gedacht, Silvies Augen seien traurig gewesen? Unsinn, er mußte sich irren. Welchen Grund hätte sie gehabt, traurig zu sein? Sie bekam ihn, den angesehenen, wohlhabenden Earl of St. James zum Mann. Sie hatte ihm selbst gesagt, wie ehrend sie seinen Antrag gefunden hatte und wie glücklich er sie machte.
Vielleicht konnte Silvies zweite Schwester Licht ins mysteriöse Dunkel dieser Angelegenheit bringen. Diese lebte von der Umwelt abgeschieden als Klosterfrau in der Abtei von St. Ann nahe Woborn. St. James hatte sie vorher noch nicht kennengelernt. Die Äbtissin hatte ihr keine Erlaubnis erteilt, zur Hochzeit ihrer Schwester nach London zu reisen. Als der Earl nunmehr im Kloster vorsprach, wollte man ihn erst gar nicht vorlassen. Er mußte all seine Autorität und eine beträchtliche Spende für die Armen in die Waagschale werfen, ehe man ihm eine Viertelstunde Sprechzeit im Beisein zweier weiterer Nonnen gewährte. Doch auch dieses hart erkämpfte Gespräch brachte Justin nicht weiter. Für Barbara war Silvie noch ein Kind, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß diese überhaupt schon im richtigen Alter war, eine Ehe einzugehen.
»Silvie ist achtzehn«, hatte der Earl daraufhin ungeduldig eingewandt. Das schien Schwester Barbara zu überraschen. Sie lebte hier seit Jahren hinter Klostermauern, jenseits der Wirklichkeit. Der spärliche Kontakt zu ihrer Familie ließ sie in dem Glauben, die Welt jenseits der Klostermauern würde stillstehen. Alles würde so bleiben, wie sie es in Erinnerung hatte. Und in ihrer Erinnerung war Silvie vierzehn. Ein wildes, fröhliches, stets zu Scherzen und verwegenen Streichen aufgelegtes Mädchen. Schwester Barbara lächelte in Gedanken versunken. Der Earl erhob sich. Es war eindeutig, daß die Klosterfrau nichts wußte, ja sich nicht einmal richtig erinnerte. Die stille, sanfte Silvie als wildes Mädchen zu beschreiben schien ihm geradezu absurd.
Am nächsten Tag erreichte er London in den frühen Mittagsstunden. Sein Kopf schmerzte, als würde er zerbrechen. Es war eine ungeheure Dummheit gewesen, in dem Wirtshaus, in dem er übernachtethatte, eine derart große Menge eines drittklassigen Brandys in sich hineinzuschütten. Damit waren seine Probleme auch nicht gelöst. Er beschloß, sich zu Bett zu begeben, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen. Doch ein Blick in seine Post, die ihm Butler Higson noch in der Halle überreichte, änderte seine Pläne schlagartig. Zu seiner Überraschung fand er nämlich einen
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