Schneegestöber (German Edition)
Tochter, die sich erdreistete, sich über die Befehle ihres Vaters hinwegzusetzen, sei nicht länger seine Tochter. St. James erkannte nach wenigen Worten, daß Lord Westmore wohl der letzte Mann war, dem Silvie ihr Vertrauen geschenkt haben würde. Er beeilte sich, die Unterredung zu beenden und das Haus am Hanover Square eilends zu verlassen. Zwei Tage später kehrte er jedoch noch einmal dahin zurück. Er hatte von Bekannten erfahren, daß der Hausherr in Begleitung zweier Freunde aufs Land gereist war, um an einer Fuchsjagd teilzunehmen. Vielleicht hatte sich Lady Westmore in der Zwischenzeit beruhigt. Vielleicht war sie in Abwesenheit ihres gestrengen Gatten redseliger. Mylady ließ ihn umgehend in ihren Salon bitten. Doch seine Hoffnungen wurden auch diesmal herb enttäuscht. Bereits sein Anblick reichte aus, um die unglückliche Dame abermals in Tränen ausbrechen zu lassen. Sie schluchzte und zitterte und konnte sich kaum beruhigen. Zwischendurch stammelte sie in unüberhörbarer Aufregung Sätze, die St. James seltsam wirr erschienen und deren Zusammenhang ihm nicht klar wurde. Hauptaussage schien zu sein, daß Mylady ihren Gatten zutiefst fürchtete und sich, gleich nachdem sie dies bekannt, erschrocken und schuldbewußt dafür entschuldigte und erklärte, Westmore sei ein wackerer Mann mit aufrichtiger Gesinnung. Es dauerte nicht lange, und St. James verlor die Geduld. Er sah ein, daß ihn dieser Besuch auf seiner Suche nach Silvie nicht weiterbringen würde. Also erhob er sich, verabschiedete sich brüsk und ließ Mylady allein.
Eine Vorsprache bei Mr. Joseph Westbourne, Silvies ältestem Bruder, war nicht minder verlorene Zeit. Joseph hatte sowohl die kleingewachsene, gedrungene Gestalt seines Vaters geerbt als auch dessen cholerisches Temperament. Zudem schien er schon am frühen Nachmittag ausgiebig dem Alkohol zugesprochen zu haben. Als St. James in dessen Wohnung vorsprach, fand er ihn zum Ausgehen gekleidet in der Eingangshalle. Mr. Westbourne erklärte unumwunden, daß er nicht viel Zeit für eine Unterredung habe, da er sich mit ein paar Freunden zum Hahnenkampf verabredet habe: »Nichts für ungut, St. James. Aber das soll der Kampf des Jahres werden. Greenhood hat einen roten Hahn erworben, der schlägt sie alle. Kommen Sie doch mit mir, wir plaudern unterwegs weiter.«
Der Earl lehnte entschieden ab. Hahnenkämpfe gehörten nicht zu den Belustígungen, für die er etwas übrig hatte. »Ich will Sie nicht aufhalten, Westbourne«, bemerkte er statt dessen und schlug ungeduldig mit der Reitgerte gegen den Schaft seines Stiefels. »Sagen Sie mir nur, wo ich Ihre Schwester finde, und Ihre Freunde brauchen nicht auf Sie zu warten.« Joseph war nicht überrascht. »Ja, ja, Sie kommen wegen Silvie. Dacht ich’s mir doch.« Er kramte ein Taschentuch aus der Hosentasche und schneuzte sich ausgiebig. »Eine verdammte Sache ist das. Ich hab keine Ahnung, wo sich das undankbare Weibsstück aufhält. Auf meine Ehr’. Aber eins weiß ich: Ich dreh ihr eigenhändig den Hals um, wenn ich sie erwische. Das versprech ich Ihnen, Mylord.« Der Earl erklärte angewidert, daß dies nicht nötig sei. Er forderte Mr. Westbourne statt dessen auf, sich bei ihm zu melden, falls er etwas von Silvie erfuhr.
Dann machte er eilends kehrt und bestieg seine Kutsche. Es war zum Verrücktwerden! Gab es denn wirklich niemanden, der wußte, wo sich Silvie aufhielt? St. James überlegte. Der zweite Sohn aus dem Hause Westbourne kreuzte mit seiner Fregatte soeben im Mittelmeer. Er war nicht einmal zur Hochzeit erschienen und schied als Auskunftsperson aus. Blieb also nur der dritte Bruder: Bernard. Und doch: St. James war sich sicher, daß Silvie sich nicht an diesen Bruder gewandt hatte. Wer würde sich dem steifen Geistlichen mit der belehrenden Art in seiner seelischen Not anvertrauen? Er kannte Bernard. Nicht umsonst hatte er in Eton jahrelang das Zimmer mit ihmgeteilt. Erst mit den Jahren war es ihm gelungen, nicht jedesmal die Geduld zu verlieren, wenn Bernard mit seinen weitschweifigen Ausführungen anfing, die Welt verbessern zu wollen. Nie hätte er sich an ihn gewandt, wenn er Hilfe brauchte. Schon gar nicht dann, wenn diese Hilfe aufgrund eines Verstoßes gegen die Konventionen – ja gegen alle guten Sitten – notwendig geworden wäre. Es schien ihm unvorstellbar, daß der Geistliche eine Frau schützte, die ihrem Mann davongelaufen war. Oder war St. James sich nur deshalb so sicher, daß Bernard nichts über das
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