Schneegestöber (German Edition)
Fahrersitz Platz und ergriff die Zügel. Obwohl er in seinem Vorhaben keinen Schritt weitergekommen war, hatte sich sein Temperament merklich abgekühlt. Er sah ein, daß er Bernard unterschätzt hatte. Vermutlich würde nicht einmal die Folter diesem Mann ein Geheimnis entlocken. Und dennoch ließ ihm dieses Thema keine Ruhe: »Gib wenigstens zu, daß du weißt, wo Silvie ist«, forderte er ihn auf, nachdem sie den ersten Teil des Weges schweigend zurückgelegt hatten.
Der Geistliche nickte: »Natürlich weiß ich das«, bestätigte er gelassen.
»Ich habe deine Eltern aufgesucht, war bei allen deinen Geschwistern. Keiner wußte Bescheid. Warum hat sich deine Schwester gerade dir anvertraut? Gibt es dafür einen besonderen Grund?«
Der Reverend nickte: »Das ist gut möglich.«
»Wenn ich wenigstens wüßte, warum sie verschwunden ist. Dann wüßte ich vielleicht auch, wo ich sie suchen soll.«
Der Reverend nickte schweigend und hielt seufzend seinen verletzten Arm fest.
»So kann ich nur Vermutungen anstellen«, fuhr St. James fort. »Vermutungen, die sich alle in Luft auflösen. Ich verstehe das alles nicht.«
»Silvie ist eine Frau«, erklärte ihm der Geistliche schlicht. »Welcher Mann kann schon von sich behaupten, die Frauen wirklich zu verstehen?«
Für kurze Zeit war der Earl von seinen Grübeleien abgelenkt. Mit großen Augen sah er den Reverend an. Er kannte eine ganze Anzahl von Frauen. Und er hatte noch nie Probleme damit gehabt, sie zu verstehen. Was sollte daran auch schwierig sein?
»Ich denke manchmal, daß nur eine Frau eine Frau wirklich verstehen kann«, erklärte ihm der Reverend. »Wir Männer denken doch zu logisch,zu verstandesbetont. Wenn du jetzt bitte stehenbleiben würdest. Wir sind eben an meinem Haus vorbeigefahren.«
Mit einem Ruck straffte St. James die Zügel. Er sprang ab und half seinem Freund aus der Kutsche. Der Abschied war knapp und wenig herzlich. Nachdenklich sah er dem Reverend nach, bis dieser im Pfarrhaus verschwunden war. Was hatte ihn bloß dazu getrieben, den Geistlichen in ein derart sinnloses Duell zu verwickeln? Das hätte schlimm ausgehen können. Die Verletzung, die er ihm zugefügt hatte, war peinlich genug. Auch wenn es sich vermutlich um nicht viel mehr als einen Kratzer handelte. Es war Zeit, daß er seine Pläne neu überdachte. Zeit für etwas Erholung und Entspannung. Weilte sein Cousin Albert nicht eben auf seinem Gut nahe Bristol, um Rotwild zu jagen? Nun, er würde sich ihm anschließen. Vielleicht kam ihm die rettende Idee, wo er Silvie suchen konnte, wenn er nicht den ganzen Tag angestrengt über dieses Thema nachdachte.
III.
Das Institut von Mrs. Clifford war in einem weitläufigen Backsteingebäude untergebracht. Dieses lag inmitten ausgedehnter Parkanlagen am äußersten Stadtrand von Bath. Dreißig Schülerinnen im Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren lebten und lernten hier und wurden in exklusiver Atmosphäre auf ihr späteres Leben vorbereitet. Mary Ann Rivingston war die einzige Schülerin, die sich länger als die üblichen Jahre im Internat aufhielt. Mrs. Clifford hatte den Ruf, jeder jungen Dame den nötigen Schliff fürs gesellschaftliche Parkett zu geben. Das Schulgeld war hoch, die Auswahlkriterien streng, und nur Mädchen aus den ersten Häusern fanden Aufnahme in diesem Institut. Dafür war die Ausbildung, die man hier bot, bei weitem umfangreicher als in anderen derartigen Schulen. Nicht nur trockenes Wissen in Geschichte, Religion und Geographie wurde vermittelt. Auch auf die korrekte Erlernung der Muttersprache in Wort und Schrift wurde Wert gelegt. Dazu kamen Grundkenntnisse in Französisch,seit Mademoiselle Jeanette Berais, eine zu Zeiten der Revolution geflohene Lehrerin, dem Institut zur Verfügung stand. Der Umstand, daß Reverend Westbourne begonnen hatte, einigen Mädchen Lateinunterricht zu geben, wurde von Mrs. Clifford eher geduldet als geschätzt. Dafür hielt sie die Anstellung von Miss Sarah Chertsey für einen wahren Glückstreffer. Miss Chertsey war eine verarmte Landadelige unbestimmten Alters. Lange Jahre hatte sie als Gouvernante in einem hochherrschaftlichen Haus im vornehmen Londoner Stadtteil Belgravia gedient. Sie kannte eine ganze Anzahl der tonangebenden Mitglieder der besten Gesellschaft persönlich und verfügte über ein weitreichendes Wissen über die Geschichte der hochadeligen Familien.
Vor zwei Jahren, als die letzte der drei Töchter des Hauses das Schulzimmer verlassen hatte, war Miss
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