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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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betonte ich die Schönheit und den Aufbruch; die Vergänglichkeit verschwieg ich.
    Draußen begannen die Konturen der weißlichen Hügellandschaft zu verschwimmen, obwohl es erst kurz nach 14 Uhr war. Ich zog das oberste Geburtsprotokoll aus meiner Mappe, auf dem Deckblatt standen das Datum und der Name: 22. Dezember 2013. Geburt von Josephine Gamps.
    Josephine G., eine 34-jährige Konditorin, hatte eine komplikationslose Schwangerschaft erlebt, wenn man von der leichten Diabetes im 9. und 10. Monat absah, die ich bei einer Konditorin für selbstverständlich hielt. Am vorherigen Sonntag, es war der Abend des 22. Dezembers, kam sie mit starken Rückenschmerzen in die Charité, ihr Muttermund war bereits 6 Zentimeter geöffnet. Josephine hatte sich für eine Wassergeburt entschieden, ich machte ihr einen Einlauf, und sie stieg in die Wanne. Gegen 23 Uhr wurden die Herztöne des Kindes schlechter, und ich forderte sie auf, aus der Wasser zu kommen. Ich holte den Arzt und plädierte für einen Kaiserschnitt. Doch dann setzten unerwartet die Presswehen ein, es waren nicht mehr als drei oder vier und das Kind war da. Es war ein Junge. Der Kleine hatte die Nabelschnur um den Hals gewickelt, was in der Regel immer für die schlechten Herztöne verantwortlich war. Ich legte ihr das Kind auf den Bauch. Josephine liefen Tränen über das Gesicht. Auch ich musste weinen.
    Ich ging meine handschriftlichen Notizen durch. Leider hatte ich mir angewöhnt, das Protokoll während der Geburt nur in Stichworten festzuhalten, um mich voll und ganz der Patientin widmen zu können. Das bedeutete allerdings doppelte Arbeit: Ich nahm meinen Laptop zur Hand und begann, das Ganze in Reinform zu bringen.
    „Du arbeitest?“ Plötzlich stand Alex in der Tür.
    „Ich versuche, mich irgendwie abzulenken“, gab ich zu.
    Er nickte. „Zum gleichen Zweck wollte ich spazieren gehen. Kommst du mit?“
    „Und Christa?“
    „Sie schläft jetzt. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.“
    Ich nickte zögerlich. Draußen war es klirrend kalt. Die Wege waren verschneit. Doch ich spürte, dass Alex mit mir allein sein wollte.
    „Können wir nicht hier reden?“, fragte ich.
    „Ich brauch dringend Bewegung.“ Alex blickte mich an. Er lächelte kraftlos.
    Bitte nicht. Ich wandte mich ab.
    Das Bild seines brutal verzerrten Mundes hatte sich vor sein Lächeln geschoben. Seit wir das letzte Mal zusammen geschlafen hatten, verfolgte es mich. Im Grunde war es keine Leidenschaft mehr gewesen, die Alex in der Weihnachtsnacht ergriffen hatte, sondern ein regelrechter Furor. Eine Angriffslust, die mich zum Ziel gehabt hatte.
    „Alex“, sagte ich, nachdem wir etwa eine Viertelstunde schweigend an der Straße entlanggestapft waren.
    „Alex?“ Er bog auf einen Pfad ab, der in den Wald führte. „Was war in dem Glas, das du deinem Vater gegeben hast?“
    Alex blieb stehen. Er sah mich erstaunt an. „Du verdächtigst mich?“
    „Alex“, flüsterte ich. „Ich liebe dich. Es ist mir egal, was du getan hast“, fuhr ich fort, nachdem er seinen Blick gesenkt hatte. „Du kannst es mir sagen. Ich werde zu dir halten, egal, was passiert. Du wirst deine Gründe haben, aber ich möchte, dass du mit mir darüber redest, verstehst du? Ich bin deine Frau, Alex, keine Fremde. Ich habe gesehen, wie du deinem Vater das Glas Champagner gegeben hast. Ist es wegen Christa? Was war drin?“
    Alex lachte seltsam. „Es war Champagner, Schatz.“
    Er drehte mir den Rücken zu und setzte den Weg fort. Schweigend gingen wir ein Stück, Alex etwa einen Meter vor mir. Der Wald wurde immer dichter. Der Schnee war nicht durch die Baumkronen gedrungen, so eng standen die Bäume, schwarze, lange, kahle Stämme. Waren das Buchen? Der Waldboden war hart und vereist, doch Alex ging immer schneller. Die Luft war eiskalt. Ich hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen, den Schal über den Mund gewickelt und spürte die feuchte Stelle, wo mein Atem auf den Stoff traf.
    „Alex?“
    Plötzlich war Alex zehn Meter voraus.
    „Alexander!“, rief ich.
    Doch Alex war weg. Ich blieb stehen. Mein Atem hing weiß in der Winterluft. Wo war er?
    Langsam ging ich weiter. Ich kam an eine scharfe Biegung, die er genommen haben musste, und tastete mich über ein Schneefeld, denn hier führte der Weg wieder ins Freie. Auf einer Aussichtsplattform erkannte ich eine dunkle Silhouette.
    „Alexander!“
    Er drehte sich um. Obwohl ich es nicht genau erkennen konnte, spürte ich, dass er lächelte. Hinter

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