Schneekind
ihm erhob sich majestätisch das Schloss der Hohenzollern, als würde es in der Luft schweben.
„Was soll das?“
„Schau dir das mal an.“
Ich ging zu ihm. In der Tat war es ein phantastischer Blick, doch es hatte wieder angefangen zu schneien, es waren kleine, feine Flocken, die mir Angst machten. Die Aussichtsplattform war ein Felsvorsprung, der nur notdürftig mit einem Holzgeländer gesichert war. Zwei Bäume rahmten das Ganze. Weiter vorne stand eine Bank.
„Das war früher mein Liebesnest“, sagte Alex. „Im Sommer wachsen die Bäume zusammen wie eine Laube.“
„Alex“, sagte ich. „Warst du schon mal verlobt?“
„Ach, das ist es.“ Er sah mich lange an. „Hat meine Mutter gequatscht? Verlobt kann man das eigentlich nicht nennen. Ich war damals 20, höchstens 21, aus Übermut steckten wir uns Ringe an die Finger, wie das halt so ist.“ Seine vernünftige Stimme beruhigte mich. Er hakte sich bei mir unter.
„Und dann?“
„Nichts.“
„Wie? Nichts?“
„Es wurde nichts daraus. Natürlich nicht. Sie studierte in Tübingen, ich in Hamburg, man verlor sich aus den Augen. Später hatte sie dann einen schrecklichen Unfall.“
Sein Arm hielt mich fest.
„Was ist passiert?“
„Sie stürzte von einem Felsen, hier in der Gegend. Sie war eine begeisterte Kletterin.“
Ich nickte. „Und du? Was hast du getan?“
„Ich?“ Er klang beinahe amüsiert. „Ich war nicht dabei. Natürlich nicht.“
„Alex!“ Ein gellender Schrei kam aus meiner Kehle. Ich rutschte. Angstvoll klammerte ich mich an Alex.
„Anne“, stotterte er erschrocken über meine heftige Reaktion. „Was ist denn los?“
Mir war schwindelig. Es war nichts. Für einen Moment dachte ich nur, ich würde abrutschen. Zitternd klammerte ich mich an Alex und begann zu weinen, bis er mich zu sich zog. Ich schloss meine Augen, bevor wir uns küssten. Alex Lippen waren eiskalt, sogar seine Zunge.
Am Abend des 26. Dezembers saß ich mit Sylvia in der Sauna. Der Keller von Schloss Albstein verfügte über einen komplett ausgestatteten Wellnessbereich, neben der Sauna gab es einen Ruhebereich, einen Pool und ein Solarium. Der Ofen knackte. Sylvia lag bäuchlings auf der obersten Stufe, den Kopf von mir abgewandt, und bewegte sich nicht. Hatte sie mich überhaupt gehört?
„Ich mache mir Sorgen“, wiederholte ich. „Um Alex.“
„Wie meinst du das?“
Ich lag auf dem Rücken und starrte auf ein Astloch in der Holzdecke.
„Er schreit im Schlaf“, sagte ich wahrheitsgemäß. Dass er „Papa“ und „Nein, nicht“ geschrien hatte, sagte ich nicht.
„Ist das verwunderlich? Nach allem, was passiert ist?“ Sylvia klang müde. In der Uhr rieselte der Sand herab.
„Da ist noch mehr“, sagte ich und rollte von der Rückenlage wider auf die Seite.
Auch Sylvia drehte ihren Kopf; schläfrig sah sie mich an.
„Was?“
„Darf ich dich was fragen?“
„Klar.“
„Ist Karl Anton der Vater von Alex?“
Sylvia setzte sich auf. Zwischen ihren Brüsten rann der Schweiß nach unten. „Hat Alex das gesagt?“, fragte sie überrascht.
„Nein, nicht direkt. Aber Christa war doch schon schwanger, als sie geheiratet haben? Für die damalige Zeit war das doch höchst ungewöhnlich, oder?“
Sylvia zuckte mit den Schultern und band sich die Haare zu einem Dutt zusammen. Immer wieder musste ich auf ihre Brüste starren, perfekte Mädchenbrüste, die vollkommen echt aussahen.
„Außerdem“, fuhr ich fort und dachte an das Gesicht von Karl Anton, wie es sich geöffnet hatte, als Christa erschienen war. „Ich habe Alex in seinem Gesicht erkannt.“
„Es gab mal Gerüchte“, sagte Sylvia und begann, ihren Nacken zu dehnen, indem sie den Kopf schief legte. „Aber Mama beharrt darauf, dass sie falsch sind. Außerdem“, sie legte den Kopf auf die andere Seite, „Papa ist Frauenarzt. Er hätte das gemerkt. Ich glaube nicht, dass er es einfach so hingenommen hätte.“
„Außer ...“. Sie verstummte.
„Sylvia“, sagte ich von einer plötzlichen Unruhe ergriffen. „Alex war gestern Nacht nochmal oben bei Hendrik gewesen, er war alleine dort, verstehst du?“
Als Alex zurückgekommen war, hatte sein Gesicht seltsam versteinert gewirkt. Ich habe ihn nicht gefragt, was er dort oben getan hatte.
„Nein“, sagte Sylvia.
„Was nein?“
„Er war nicht allein.“
„Nicht allein?“
„Ich war auch da.“
Also doch.
„Sylvia“, sagte ich und atmete die heiße Luft ein. „Habt ihr Hendrik
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