Schneekind
umgebracht?“
„Warum hätten wir das tun sollen?“
„Weil ihr gedacht habt, dass er Friedrich ermordet hat?“
„Das ist doch Quatsch.“
Weil ihr einen Zeugen aus dem Weg räumen wolltet, waren die Worte, die ich mich nicht auszusprechen traute.
Mein Körper fühlte sich unendlich schwer an, als ich zurück auf den Rücken rollte. Der Schweiß drang mir plötzlich aus jeder Pore, er rann an meinem ganzen Körper herab, an den Schenkeln, Brüsten, er sammelte sich im Bauchnabel. Dann begann etwas in meinem Kopf zu hämmern. Es war mein eigener Herzschlag im Ohr.
„Hendrik hat Selbstmord begangen“, hörte ich Sylvia. „Du hast doch gehört, was Kommissar Engler gesagt hat.“
„Aber der Zettel“, wimmerte ich und schleppte mich auf die unterste Stufe. Mein Kreislauf spielte verrückt. „Es war derselbe Zettel wie bei Daniela Wächter.“
„Was beweist das schon?“ Sylvia schüttete einen Löffel Wasser auf den Ofen. Es zischte. „Hendrik hat das damals am meisten mitbekommen, Papas Affäre mit Daniela Wächter, meine ich, er wohnte ja zu der Zeit noch zu Hause. Ich glaube zwar nicht, dass er am 13. Dezember in Dresden war, aber hast du das überprüft? Egal. Hendrik hat auf jeden Fall gewusst, wie Daniela Wächter gestorben ist und was auf dem Zettel stand.“
Sie setzte sich wieder. Ihr Schamhaar war schwarz. Also war sie doch keine echte Blondine, ging mir durch den Kopf.
„Hendrik war schon immer der typische Trittbrettfahrer“, sagte sie. „Vielleicht fühlte er sich mies, dass er Papa aus reiner Habgier umgebracht hat. Vielleicht fiel ihm der Spruch einfach wieder ein, bevor er sich den letzten Schuss gesetzt hat, vielleicht dachte er in diesem Moment, das rechtfertige seine Tat.“
„Aber ich will ehrlich sein.“ Etwas in Sylvias Stimme alarmierte mich. Ich setzte mich auf, doch ich musste mich wieder hinlegen, so schwindelig wurde mir.
„Ich mache mir Sorgen“, sagte sie liebevoll. „Um dich.“
Sylvia sah mich an. Im Gegensatz zu ihrer Stimme war ihr Blick scharf wie ein Skalpell: „Du verbirgst etwas, Anne. Wird es nicht langsam Zeit, darüber zu reden?“
7. Kapitel: 27. Dezember
„Anne, Kind“, sagte Christa und streichelte mir über das Haar, als ich am Küchentisch zu weinen anfing. „Weine ruhig, das tut uns allen gut.“
Es war Freitagmittag, Alex und Sylvia waren beim Bestatter, Christa würde gleich Besuch von ihrer Schwester bekommen, Karl kümmerte sich um die Pferde.
Zu allem Unglück hatte ich das Gefühl, dass nicht nur Sylvia, sondern auch Frey misstrauisch geworden war. Ich hatte mich lange am Telefon mit ihm beraten, doch anstatt mich zu trösten, wie es sonst seine Art war, sagte er: „Hör mir jetzt gut zu, Anne.“
„Anne?“, hatte er geschrien, als ich nicht gleich antwortete.
„Ja?“
„Du kommst jetzt sofort nach Berlin.“
„Ich kann nicht.“
Schweigen. Dann schließlich: „Okay. Dann faxe ich dir ein Rezept, jetzt gleich, geh bitte sofort zur nächsten Apotheke und nimm diese Tabletten. Versprichst du mir das, Anne?“
„Ja.“
„Und sobald du am Dienstag landest, kommst du zu mir. Hörst du, Anne?“
„Ja.“
Ich gab ihm die Faxnummer von Friedrichs Büro, das keiner mehr betrat.
„Ich glaube, ich leg mich ein bisschen hin“, sagte ich zu Christa und schnäuzte in eine Weihnachtsserviette.
„Tu das, Kind.“ Christa sah mich an, als lächelte sie. Es war der geläuterte Schmerz einer Heiligen. „Ein bisschen Ruhe tut uns allen gut.“
Ich saß in dem Sessel mit den Kirschblüten und blickte über die Stadt, die sich langsam in ein Lichtermeer verwandelte. Es war kurz nach 16 Uhr. Auf dem Tischchen neben mir stand eine Tasse Johanniskraut-Tee. Daneben lag meine Arbeitsmappe, doch ich hatte keine Eile. Der Anblick dieser Winterwelt, die langsam in der Dämmerung versank, war magisch. Der Hang gegenüber fiel in sanften Hügeln ab, die Lichter der Häuser nahmen zu, je weiter man ins Tal kam, ein rötlicher Streifen durchzog das bläuliche Grau. Ab und zu schimmerte der Schnee wie das Hochzeitskleid, das Sylvia für mich ausgesucht hatte.
Meine Gedanken wanderten zu Daniela Wächter.
Es war exakt vor zwei Wochen gewesen, am Freitag, den 13. Dezember. Zu dieser Uhrzeit ahnte Daniela Wächter noch nicht, dass der Vortrag von Dr. Alexander Marquard der letzte Vortrag war, den sie in ihrem Leben hören würde. Sie ahnte nicht, dass ihr nur noch vier Stunden blieben. Oder doch? Manchmal hatte ich das Gefühl, der
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