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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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genetisch bedingt nicht glücklich werden konnten.
    Nach Mamas Tod habe ich nicht nur meinen ersten Zahn in der Kiste gefunden, sondern auch das Protokoll jener Nacht. Der Name Marquard war ein Schock für mich gewesen. Ich befand mich Anfang Februar ja gerade in der Hochphase meiner Verliebtheit mit Alex. Dreimal habe ich mich übergeben, nachdem kein Zweifel mehr bestand, dass es sich um Alex’ Vater handelte. Dann sprach ich Alex auf die Mailbox, dass es Schluss sein müsste; wir hätten einfach keine Zukunft, sagte ich und legte auf.
    Doch bei der Beerdigung meiner Mutter wurde mir klar, dass die Begegnung mit Alex Schicksal war: Alexander, der Sohn, würde das wiedergutmachen, was Friedrich, der Vater, mir genommen hatte: mein Glück. Mein Kind.
    Warum musste es sterben?
    Draußen begann sich die Dunkelheit zu verwandeln. Eine schwarze Wand zog sich zusammen, die alles schluckte. Immer wieder ließ ich meinen Blick über Sigmaringen gleiten, eine Insel aus Licht, während ich den Bericht von Daniela Wächter las:
    Meine Schicht begann am 24.12.1997 offiziell erst um 22 Uhr. Doch ich war bereits ab 19 Uhr in der Klinik, weil Prof. Marquard mich darum gebeten hatte. Er wollte mich noch einmal sehen, am nächsten Tag begann sein Urlaub.
    Frau Satchmores Schwangerschaft war ohne Komplikationen verlaufen. Sie war in guter körperlicher und psychischer Verfassung. Sie hatte alle Untersuchungen der Vorsorge wahrgenommen, alle Befunde waren negativ. Frau Satchmore erwartete einen kerngesunden Knaben. Wir rechneten nicht mit Komplikationen.
    Frau Satchmore war die einzige Gebärende in dieser Nacht. Die Räume, auch der Kreißsaal, waren weihnachtlich dekoriert, Frau Satchmore hatte nichts dagegen, dass Weihnachtsmusik lief. Obwohl ihre Wehen ab 19 Uhr kräftiger wurden, machte sie nicht den Eindruck, als hätte sie starke Schmerzen. Das bestätigte mich in der Annahme, dass diese Frau eine einfache Geburt haben würde. Deshalb machte ich mir keine Sorgen, dass ausgerechnet Karin die Schicht vor mir hatte. Karin war damals noch sehr unerfahren, sie kam direkt von der Hebammen-Schule.
    Ich erinnere mich noch genau, dass gegen 20.30 Uhr Kinder aus der Kinderklinik herüber kamen und ein Weihnachtsgedicht aufsagten. Ich erinnere mich sogar noch, welches: Von drauß vom Walde komm ich her, war es. Als die Kinder wieder gingen, war Frau Satchmore schweißgebadet, doch sie verlangte immer noch nicht nach einer PDA. Das bekräftigte mich in meinem Eindruck, dass sie besonders stark und vital war.
    Gegen 20.45 Uhr kam es zu einer Irritation: Die Herztöne des Kindes gingen dramatisch nach unten. Doch Karin überredete Frau Satchmore zu einer Seitenlage. Tatsächlich erholten sich die Herztöne wieder, auch wenn sie fortan nicht mehr so stabil waren wie zuvor.
    Obwohl ich jetzt nicht mehr ganz so ein gutes Gefühl hatte, zogen sich Prof. Marquard und ich gegen 21 Uhr in sein Büro zurück. Uns blieb nur noch diese eine Stunde, danach hatte ich Nachtdienst, dann fuhr er in Urlaub. Unser Verhältnis war zu dieser Zeit noch frisch. Prof. Marquard gab seinem Assistenzarzt Dr. Lars Jordan Anweisung, ihn nur im größten Notfall zu stören. Ich habe gehört, wie er zu dem jungen Arzt gesagt hat: „Ich erwarte, dass es keinerlei Komplikationen geben wird.“
    Fünf Minuten vor 22 Uhr kam ich in den Kreißsaal. Frau Satchmore schrie jetzt ohne Unterlass. Jede Gebärende schreit, doch diese Schreie waren anders. Ich blickte auf das CTG, dann in Karins Gesicht. Was war hier los? Warum war das CTG so schlecht? Dr. Jordan habe das CTG alle 20 Minuten überprüft, entgegnete Karin. Ich schrie Dr. Jordan an, der mich ansah, als hätte er mit der ganzen Sache nichts zu tun: „Was ist mit dem CTG los?“ Karin reichte der Gebärenden ein nasses Handtuch, in das sie beißen sollte. Dr. Jordan schickte die Mutter von Frau Satchmore nach draußen, weil man einen Notkaiserschnitt in Betracht ziehen würde. Den Vater des Kindes konnte ich nirgends entdecken. Aus dem Lautsprecher drang ein Weihnachtslied, ich stellte die Musik ab.
    Dann stand plötzlich Prof. Marquard im Raum, die Herztöne des Kindes waren jetzt sinusoidal. „Schnell“, rief er und nahm ohne Betäubung eine Episiotomie (Dammschnitt) vor. Frau Satchmore schrie nicht mehr. Sie schien das Bewusstsein verloren zu haben, die Wehentätigkeit war gleich null. Ich griff nach der Saugglocke und zog.
    Ich erschrak, als es kam. Das Kind hatte die Nabelschnur mehrmals um den Hals gewickelt

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