Schneekind
Berufsstand der Hebamme brachte es mit sich, dass wir besonders empfänglich waren für Ahnungen. Denn mitten in Alex’ Vortrag – er sprach von neuen Möglichkeiten der Herzchirurgie bei Neugeborenen – drehte sie sich plötzlich um. Sie sah mich an. Aus ihrem Blick habe ich ein Einvernehmen gelesen.
Daniela Wächter hatte vier Reihen vor mir gesessen, wir hatten an diesem Tag noch kein Wort miteinander gewechselt, doch plötzlich drehte sie sich um und sah mich an, als wollte sie mir etwas sagen.
Ich habe auf dich gewartet.
Waren seitdem wirklich erst zwei Wochen vergangen? Der Gedanke kam mir seltsam vor. Die Zeit hüllte mich ein wie Nebel, wie ein Gespenst, das unmerklich seine Form verändern konnte. Zwei Wochen waren eine Ewigkeit, dann wieder Sekunden, in denen sie mich immer wieder ansah. Daniela Wächter. Mit ihrem Tod fing alles an.
Nein. Es fing schon viel früher an.
Ich nahm meine Arbeitsmappe. Zärtlich strich ich über den Ledereinband. Es würde noch dauern, bis Alex und Sylvia vom Bestatter zurückkamen; immerhin mussten zwei Beerdigungen organisiert werden. Niemand konnte mich stören. Ich öffnete die Mappe und zog einen alten DIN-A4-Umschlag aus dem Innenfach, mein Puls ging schneller, als ich die Blätter herausnahm. Außerdem befand sich ein 106 cm langes Rollenpapier in dem Umschlag, das übliche, dünne Papier, auf dem ein CTG aufgezeichnet wurde; es war ebenfalls auf DIN-A4-Größe zusammengefaltet.
Ich löste die Büroklammer. Sechs Blätter waren es insgesamt. Das Deckblatt war leicht vergilbt. Außer dem Datum stand noch ein Name darauf: 24. Dezember 1997. Zum Fall von Anne Satchmore.
Das Protokoll begann mit der Kopie eines Geburtsberichts:
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|15:30| Aufnahme im Krankenhaus, regelm. WT alle 5 Min.
|20:00| Info Prof. Dr. Marquard über Patientin
|20:45| kräftige WT, Ht z.T. eingeschränkt, Lagerung in Seitenlage, Ht wieder erholt
|21:15| Visite Dr. Lars Jordan. CTG gesehen.
|21:35| Visite Dr. Jordan. CTG gesehen.
|21:55| Visite Dr. Jordan. CTG gesehen.
|22:05| Info Prof. Dr. Marquard. CTG gesehen.
|22:08| Entschluss zur vorzeitigen Entbindung.
|22:15| Geburt eines asphyktischen, blassen Knaben. Nabelschnur 3 x straff u. d. H. gewickelt, Fruchtwasser bei Geburt grün.
|22:45| Feststellung des Todes durch Prof. Dr. Friedrich Marquard (Chefarzt), Dr. Lars Jordan (Assistenzart) und Dr. Ling-Ni (Anästhesist).
|23:00| Überstellung der Patientin auf Intensivstation.
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Asphyktisch bedeutete erstickt , der Erstickung nahe , eigentlich pulslos . Ich hatte das Wort für lange Zeit vergessen.
Draußen nahmen die hellen Blau- und Weißtöne ab, das dunkle Grau, das aus den Wäldern kam, nahm zu.
Ich faltete das CTG auseinander: Die obere Kurve zeichnete die Herztöne des Kindes auf (Ht), die untere parallel dazu die Wehentätigkeit der Mutter (WT). Heute lese ich ein CTG so sicher wie mein Gesicht im Spiegel: Auf diesem war bereits um 20.45 Uhr – also zwei Stunden vor der eingeleiteten Geburt – deutlich eine Bradykardie zu erkennen, das war eine verlangsamte Herztätigkeit des Kindes. Ab 21 Uhr wurden die Herztöne dann pathologisch (krankhaft). In so einem Fall musste jede Hebamme zumindest auf eine Mikroblutuntersuchung drängen, um Sicherheit über den Zustand des Kindes zu bekommen.
Warum hat niemand etwas getan?
Ab 22 Uhr riss die Kurve mit den Herztönen des Kindes immer mehr ab. Man nannte das einen sinusoidalen Verlauf. So eine Kurve wurde – laut Lehrbuch von Friedrich Marquard – einem sterbenden Kind zugeordnet. In so einem Fall zählte jede Sekunde.
Warum tat denn niemand etwas?
Fünfzehn Minuten später kam das Kind tot zur Welt. Ein asphyktischer, blasser Knabe. Dreimal war die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt.
Warum?
Daniela Wächter hatte den Brief mit den Unterlagen laut Poststempel am 26. September 2003 an meine Mutter nach Dresden geschickt, weil sie meine Berliner Adresse nicht ausfindig habe machen können. Frau Wächter wollte mir alle Unterlagen zur Verfügung stellen, die ich brauchte, um vor Gericht gehen zu können: neben dem CTG vor allem ihren Bericht, der mit dem offiziellen Geburtsprotokoll nicht identisch war. Außerdem sei sie dazu bereit, vor Gericht auszusagen, auch wenn sie sich damit selbst belasten müsse.
Doch meine Mutter hatte das Ganze einfach in eine Kiste gesteckt. Vielleicht sah sie es als ein Beweis dessen, das wir
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