Schneekind
und war schneeweiß. Noch nie habe ich ein so weißes Kind gesehen. Herz und Atmung standen still. Prof. Marquard trug es hinaus, rief den Kollegen von der Neonatologie und versuchte, es wiederzubeleben.
Später sah ich, wie Prof. Marquard und sein Assistenzarzt Dr. Jordan zusammensaßen, um das Geburtsprotokoll zu schreiben. „Was sollen wir denn schreiben?“, hörte ich Dr. Jordan fragen. Prof. Marquard schüttelte nur den Kopf. Zwei Stunden später ging er nach Hause, um mit seiner Familie Weihnachten zu feiern.
Nach seinem Urlaub habe ich Prof. Marquard zur Rede gestellt. Sein Assistenzart habe die Situation richtig eingeschätzt, meinte er nun, für einen Kaiserschnitt sei es zuerst zu früh und dann zu spät gewesen. Der Herzfehler, der zum Tode führte, könne nur vor der Geburt eingetreten sein. Das Ganze sei ein tragisches Unglück, meinte er.
Ich habe Dr. Jordan zur Rede gestellt. Warum er nicht früher reagiert habe? Warum er nicht Prof. Marquard um Hilfe gebeten habe? Das sei kein gutes CTG gewesen, meinte er, das müsse man sagen. Vielleicht hätte es etwas gebracht, einen Kaiserschnitt zu machen, das müsse man ebenfalls sagen. Aber er hätte schon mal einen ähnlichen Fall erlebt, da sei dann die Mutter gestorben. Und hätte man das gewollt? Man könne nicht alles kontrollieren, meinte er. Es gäbe immer ein Risiko im Leben. Das sei Schicksal.
Ich habe Karin zur Rede gestellt. Ihre Naivität war grenzenlos. Sie habe bereits um 21.20 Uhr geahnt, dass da etwas mit der Nabelschnur sei, sagte sie zu mir. Auf meine Frage, warum sie dann nicht reagiert habe, verwies sie auf den Arzt; wenn er das CTG gesehen habe, dann müsse das doch in Ordnung sein. Sie habe noch nie ein so weißes Kind gesehen, sagte sie noch.
Weiß wie Schnee. Ich blickte noch einmal hinaus, bevor ich den letzten Absatz las, den Daniela Wächter mit einem anderen Stift dem Bericht hinzugefügt hatte:
Anmerken möchte ich noch, dass auch bei der medizinischen Versorgung von Frau Satchmore Fehler begangen wurden. Frau Satchmore muss gegen 22 Uhr das Bewusstsein verloren haben, bei der Geburt und durch den Dammschnitt verlor sie viel Blut. Trotzdem lag sie über eine halbe Stunde unversorgt im Kreißsaal, weil sich alle um das Kind kümmerten. Diese lange Zeitspanne mag dazu beigetragen haben, dass Frau Satchmore aus der Ohnmacht nicht mehr erwachte. Erst gegen 23 Uhr wurde sie auf die Intensivstation gebracht und angemessen medizinisch versorgt. Da war sie bereits in ein Koma gefallen. Als sie nach vier Wochen wieder erwachte, spürte ich die Erleichterung bei allen Beteiligten, dass sich Frau Satchmore an nichts mehr erinnern konnte.
War da ein Auto vorgefahren? Kamen sie zurück? Ich lauschte, doch alles schien ruhig. Ich nickte. Ohne Daniela Wächter wäre das Ganze nie ans Tageslicht gekommen. Aber hoffte sie wirklich auf mein Verständnis für das, was sie getan hatte?
Ich nahm einen Schluck Tee und starrte vor mich hin.
Nach dem Tod meiner Mutter begriff ich plötzlich, warum ich jedes Jahr in der Nacht des 24. Dezembers von Schmerzen heimgesucht wurde, die den Schmerzen einer Gebärenden ähnlich waren. Ich begriff, warum ich bei den Geburten meiner Patientinnen so emotional reagierte; sie erinnerten mich an meine eigene Geburt. Ich begriff, dass Last Christmas das Letzte gewesen sein muss, das ich hörte, bevor ich für lange Zeit das Bewusstsein verlor. Ich begriff auch, warum mir das Gedicht Von drauß vom Walde immer unheimlich gewesen war.
All das begriff ich, nachdem ich den Bericht von Daniela Wächter gelesen hatte, doch ich erinnerte mich nicht daran.
Bis vorgestern Nacht .
Als ich auf dem schwarzen Perserteppich das Bewusstsein verloren hatte, war ich wieder dort gewesen: im Kreißsaal der Dresdener Frauenklinik. Ich sah, wie jemand ein weißes Bündel hinaustrug, und ich spürte, wie ich zu schreien versuchte, doch es ging nicht. Luka, wollte ich schreien.
Luka . Sein Name war mir wieder eingefallen. Frey hatte also recht behalten. Ich war zum Ursprung meiner Angst gereist. Und es stimmte: Ich war stärker als sie.
Im Grunde haben doch weder Daniela Wächter noch Friedrich Marquard auf Verständnis gehofft, sondern auf Erlösung. In Mamas Kiste habe ich nicht nur den Zahn und den Brief gefunden, sondern auch den Tod. Er lag dort in Form einer länglichen Durchdrückpackung für 8 Dragees, ohne Beipackzettel, ohne Schachtel. Anders als bei handelsüblichen Tabletten war auf die Aluminiumfolie kein Name
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