Schneemann
Gedanke nicht erst jetzt kam, sondern schon lange irgendwo gelauert hatte, gemeinsam mit all den anderen nicht zu Ende gedachten, halbfertigen, vagen Gedanken. Das dritte Huhn war auf die gleiche Weise getötet worden wie Sylvia Ottersen: mit einer glühenden Schneideschlinge.
Er trat an die Stelle, an der die Dielen das Blut aufgesaugt hatten, und ging in die Hocke.
Hatte der Schneemann das letzte Huhn getötet? Aber warum mit der Schneideschlinge und nicht mit dem Beil? Ganz einfach. Weil das Beil irgendwo im dunklen Wald verschwunden war. Ergo war das erst nach dem Mord geschehen. Aber warum war er überhaupt den ganzen Weg zurückgegangen und hatte ein Huhn geschlachtet? Eine Art Voodooritual? Ein plötzlicher Einfall? Aber das konnte nicht sein, diese Tötungsmaschine hielt sich doch an den Plan und folgte ihrem Muster.
Es musste einen Grund geben. Warum?
“Warum?”, fragte Katrine.
Harry hatte sie nicht kommen gehört. Sie stand im Scheunentor und streckte ihm zwei kleine Plastikbeutel mit Wattestäbchen entgegen. Das Licht der einzelnen Glühbirne fiel auf ihr Gesicht, und Harry schauderte es bei dem Anblick. Sie stand genauso da wie bei Becker und streckte ihm die Hände entgegen. Aber das war noch nicht alles. Irgendwie erinnerte sie ihn ganz furchtbar an jemanden.
“Wie ich schon sagte”, murmelte Harry und starrte auf die rosa Flecken. “Ich glaube, es geht um Verwandtschaft. Und darum, Dinge zu vertuschen.”
“Wer?”, fragte sie und kam näher. Die Absätze ihrer hohen Stiefeletten knallten auf dem Boden. “Wen hast du auf dem Kieker?” Sie ging neben ihm in die Hocke. Ihr männliches Parfüm strich an ihm vorbei und stieg von ihrer warmen Haut rasch in die kalte Luft.
“Wie gesagt, ich hab keine Ahnung.”
“Das ist doch kein systematisches Arbeiten, nur eine Idee. Rück schon raus mit deiner Theorie”, bat sie und fuhr mit dem rechten Zeigefinger über das Sägemehl.
Harry zögerte. “Das ist nicht mal eine Theorie.” “Los, komm schon, erzähl.”
Harry hielt die Luft an. “Arve Støp.” “Was soll mit ihm sein?”
“Arve Støp behauptet, Idar Vetlesen hätte sich um seinen Tennisarm gekümmert. Borghild behauptet jedoch, dass es gar keine Krankenakte über Støpgibt. Ich frage mich, wie das sein kann.” Katrine zuckte mit den Schultern. “Vielleicht war es mehr als ein Ellenbogen. Vielleicht hatte Støp Angst, es könnte herauskommen, dass er was mit seinem Äußeren hat machen lassen.”
“Wäre Idar Vetlesen bereit gewesen, bei allen Patienten, die Angst um ihren guten Ruf hatten, auf Krankenakten zu verzichten, hätte er nicht einen einzigen Namen in seinem Archiv gehabt. Nein, ich denke, es gibt andere Gründe. Vielleicht etwas, das wirklich nicht an die Öffentlichkeit durfte.”
“Woran denkst du da?”
“Støp hat Bosse angelogen. Er hat behauptet, es gäbe in seiner Familie keine erblichen Krankheiten oder gar Fälle von Geisteskrankheit. “
“Und die gibt es doch?”
“Nehmen wir das mal an, nur so als Theorie.”
“Die Theorie, die eigentlich noch gar keine Theorie ist?” Harry nickte. “Wenn Idar Vetlesen Spezialist für die Fahr’sche Krankheit in Norwegen war, hat er das verdammt gut geheim gehalten. Nicht einmal Borghild, seine Sprechstundenhilfe, wusste davon. Wie in aller Welt haben Sylvia Ottersen und Birte Becker dann zu ihm gefunden?”
“Wie?”
“Nehmen wir mal an, Vetlesens Spezialgebiet waren nicht diese erblichen Krankheiten, sondern Diskretion. Er hat ja selbst gesagt, das sei die Grundlage seines ganzen Geschäfts. Und das ist auch der Grund dafür, dass sich ein Freund und Patient an ihn wendet und ihm anvertraut, dass er unter der Fahr’schen Krankheit leidet. Die Diagnose hat er irgendwo anders bekommen, bei einem wirklichen Spezialisten. Aber dieser Spezialist hat nicht
Vetlesens Spitzenkompetenz in Diskretion, denn diese Krankheit muss wirklich geheim gehalten werden. Der Patient besteht darauf und bezahlt vielleicht auch dafür. Denn bezahlen kann er. “
“Arve Støp?” “Ja.”
“Aber er hat die Diagnose bereits an einem anderen Ort bekommen, von dem aus sie an die Öffentlichkeit durchsickern könnte.”
“Das ist nicht der wahre Grund für Støps Angst. Er hat vielmehr Angst, es könnte bekannt werden, dass er auch seinen Nachwuchs dorthin mitbringt. Nachwuchs, der auf diese Erbkrankheit untersucht werden soll. Das alles muss aber unter absoluter Geheimhaltung geschehen, denn es weiß ja niemand, dass
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