Schneemann

Bjorn. “Und wenn Katrine da drin ist?” Harry sah ihn an und wartete.
    “Ich meine … “, fuhr Bjorn fort und versuchte zu ergründen, was er eigentlich gedacht hatte. “Im schlimmsten Fall erschieße ich dann … eine Kollegin?”
    “Im schlimmsten Fall … “, korrigierte Harry, “wirst du von einer Kollegin erschossen. Also, bist du bereit?”
    Der junge Kriminaltechniker aus Skreia nickte und entschloss sich - sollte das alles gutgehen -, es doch mal mit Pomade zu versuchen. Harry drückte die Tür lautlos mit dem Fuß auf und trat ein. Sofort spürte er die Luftbewegung. Durchzug. Die erste Tür rechts war am Ende des Flurs. Harry packte die Klinke mit der linken Hand, während er die Waffe gezückt hielt. Dann riss er die Tür auf und ging hinein. Es war ein Arbeitszimmer. Leer. Über dem Schreibtisch hing eine große Norwegenkarte, in die Nadeln gesteckt waren.
    Harry ging zurück auf den Flur, wo Holm auf ihn wartete. Harry erinnerte ihn daran, die Waffe immer im Anschlag zu halten.
    So rückten sie Stück für Stück vor.
    Küche, Bibliothek, Trainingsraum, Esszimmer, Wintergarten, Gästezimmer. Alle leer.
    Harry spürte, dass die Raumtemperatur immer weiter sank.
    Und als sie ins Wohnzimmer kamen, sah er auch, warum. Die Schiebetür, die auf die Dachterrasse und zum Pool führte, stand offen. Eine weiße Gardine flatterte nervös im Wind. Auf jeder Seite des Wohnzimmers führte ein kleiner Flur zu einer weiteren Tür. Er gab Holm ein Zeichen, sich um die Tür auf der linken Seite zu kümmern, während er sich selbst vor die andere stellte.
    Harry holte tief Luft, kauerte sich zusammen, um ein möglichst kleines Ziel abzugeben, und öffnete die Tür.
    Im Dunkeln erblickte er ein Bett, weißes Bettzeug und etwas, das ein Körper sein konnte. Seine linke Hand tastete nach dem Lichtschalter an der Wand neben der Tür.
    “Harry!”
    Es war Holm. “Hierher, Harry!”
    Holms Stimme klang aufgeregt, aber Harry ließ ihn warten und konzentrierte sich auf das Dunkel vor sich. Seine Hand fand den Schalter, und im nächsten Augenblick badete das Schlafzimmer im Licht der kleinen Deckenstrahler. Es war leer. Harry überprüfte die Schränke, bevor er aus dem Zimmer ging. Holm stand mit gezücktem Revolver vor der Tür. Harry trat neben ihn.
    “Er rührt sich nicht”, flüsterte Holm. “Er ist tot. Er … ” “Dann hättest du mich nicht zu rufen brauchen”, schnitt Harry ihm das Wort ab, trat neben die Badewanne, beugte sich über den nackten Mann und zog ihm die Schweinemaske vom Gesicht. Ein dünner, roter Streifen lief um seinen Hals, das Gesicht war blass und aufgedunsen, und selbst hinter seinen geschlossenen Lidern konnte man sehen, wie weit ihm die Augen aus den Höhlen getreten waren. Arve Srop war nicht wiederzuerkennen.
    “Ich rufe die Spurensicherung an”, beschloss Holm.
    “Warte.” Harry hielt eine Hand vor Srops Mund. Dann packte er den Redakteur an der Schulter und schüttelte ihn. “Was soll das?”
    Harry schüttelte fester.
    Bjorn legte Harry eine Hand auf die Schulter. “Aber Harry, siehst du denn nicht … “
    Holm zuckte zurück. Støp hatte die Augen geöffnet. Und jetzt holte er Luft - wie nach einem Tauchgang ohne Sauerstoffgerät-, tief, schmerzerfüllt, röchelnd.
    “Wo ist sie?”, fragte Harry.
    Støp bewegte den Kopf und starrte Harry an. Seine Pupillen waren groß und schwarz vor Schock.
    “Wo ist sie?”, wiederholte Harry.
    Støp gelang es nicht, seinen Blick auf irgendetwas zu heften. Aus seinem Mund drang nur unkontrolliertes, abgehacktes Schluchzen. “Warte hier, Holm.”
    Holm nickte und sah seinen Kollegen durch die Badezimmertür verschwinden.
    Harry stand am Rand von Arve Støps Terrasse. Fünfundzwanzig Meter unter ihm glitzerte das schwarze Wasser des Kanals. Im Mondlicht konnte er die Skulptur der Frau auf Stelzen erkennen, die im Wasser neben der leeren Brücke stand. Und da … etwas Glattes, das im Wasser trieb, wie der Bauch eines toten Fisches. Der Rücken eines schwarzen Ledermantels. Sie war gesprungen. Von der siebten Etage.
    Harry stieg auf die Brüstung der Terrasse, bis er zwischen den leeren Blumentöpfen stand. Ein Bild aus seiner Erinnerung schoss ihm durch den Kopf. Ostmarka. Und Oystein, der sich von den Felsen in den Hauktjern-See gestürzt hatte. Harry und Holzschuh, die ihn an Land zogen. Oystein im Krankenbett des Reichshospitals mit einer Art Baugerüst um den Hals. Harry hatte daraus etwas gelernt: Aus großen Höhen musste man