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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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vorbeituckerte, sah er den Totempfahl in der Dämmerung zwischen den kahlen Parkbäumen hervorlugen. Das Meer lag bei dem Regen wie eine schäumende, graue Fläche vor ihm. Als er den Gashebel neben dem Steuer nach vorn schob, hob sich der Bug, so dass Harry sich hinten abstützen musste. Das Boot beschleunigte.
    Eine Viertelstunde später zog Harry den Hebel zurück und machte das Boot an einem Anleger auf Finnoy fest, der von Raftos Hütte aus nicht zu sehen war. Er griff nach seiner Angel und lauschte dem Regen. Angeln war nicht seine Sache. Der schwere Blinker setzte sich sofort am Boden fest, so dass Harry Tang mit heraufzog, der sich beim Einholen der Schnur gleich um die Rute wickelte. Er löste den Haken und reinigte ihn. Als er anschließend versuchte, den Haken wieder ins Wasser zu lassen, hatte er plötzlich einen Knoten auf der Rolle, so dass der Blinker zwanzig Zentimeter unter der Rutenspitze hängen blieb und weder vor noch zurück wollte. Harry sah auf die Uhr. Sollte jemand vom Lärm des Motors aufgeschreckt worden sein, hatte der sich inzwischen sicher wieder beruhigt, so dass er loslegen konnte. Außerdem blieb ihm nicht viel Zeit, bis zum Einbruch der Dunkelheit musste er alles erledigt haben. Er legte die Angel auf die Sitzbank, nahm den Revolver aus der Tasche und lud ihn.
    Bevor er an Land ging, schob er sich die beiden Tränengasdosen in die Jackentaschen. Sie sahen aus wie kleine Thermosflaschen.
    Er brauchte fünf Minuten über den höchsten Punkt der menschenleeren Insel bis zu den winterfest gemachten Ferienhäusern auf der anderen Seite. Raftos Hütte lag dunkel und unnahbar vor ihm. Er suchte sich einen Platz auf einem Felsen etwa zwanzig Meter vor der Hütte, von wo aus er alle Türen und Fenster einsehen konnte. Der Regen hatte die Schulterpartien seiner grünen Militärjacke längst durchdrungen. Dann nahm er eine der Tränengasdosen aus der Tasche und zog den Sicherungsstift heraus. In fünf Sekunden würde der gefederte Mechanismus aufspringen und das Gas ausströmen. Er rannte mit der Dose in der Hand zur Hütte und schleuderte sie in ein Fenster. Das Glas zerbarst mit einem dünnen, hellen Klirren. Harry zog sich auf den Felsen zurück und zückte den Revolver. Durch den Regen hörte er das Zischen des austretenden Gases und sah, wie sich die Fenster grau färbten.
    Sollte sie dort drinnen sein, konnte sie es nur wenige Sekunden aushalten.
    Er zielte. Wartete und zielte.
    Nach zwei Minuten war noch immer nichts geschehen. Harry wartete weitere zwei Minuten.
    Dann bereitete er die andere Dose vor, ging mit gezogenem Revolver zur Tür und fasste an den Türgriff. Verschlossen. Aber nicht sehr stabil. Er nahm vier Schritte Anlauf.
    Die Tür splitterte an den Scharnieren, so dass er mit der rechten Schulter voran in den vernebelten Raum fiel. Sofort griff das Gas seine Augen an. Harry hielt die Luft an und tastete sich zu der Klapptür vor, die in den Keller führte. Er hob sie an, zog den Splint aus der zweiten Dose und ließ sie nach unten fallen. Dann rannte er wieder nach draußen. Fand eine Pfütze und sackte mit tränenden Augen und laufender Nase auf die Knie. Er presste seinen Kopf mit geöffneten Augen so tief ins Wasser, dass er den Schotter an seiner Nase spürte. Zweimal wiederholte er diesen Tauchgang im Seichten. Nase und Rachen brannten ihm zwar immer noch höllisch, aber jetzt konnte er wenigstens wieder sehen. Er richtete den Revolver erneut auf das Haus. Wartete. Und wartete.
    “Komm schon! Komm schon! Verdammte Fotze!” Aber niemand kam.
    Nach einer Viertelstunde drang kein Nebel mehr durch das Loch in der Fensterscheibe.
    Harry ging zur Hütte und trat die Tür auf, die wieder zugefallen war. Hustete und warf einen letzten Blick nach drinnen. Vernebelte Öde. Autopilot. Verdammt! Verdammt!
    Als er zum Boot zurückging, war es schon so dunkel, dass er damit rechnete, Probleme mit der Sicht zu bekommen. Er löste die Vertäuung, ging an Bord und legte die Hand auf die Zündung. Ein Gedanke schoss durch seinen Kopf: Er hatte sechsunddreißig Stunden nicht mehr geschlafen und seit dem Morgen nichts mehr gegessen, war bis auf die Haut durchnässt und vollkommen umsonst in dieses Scheiß-Bergen geflogen. Wenn dieser Motor jetzt nicht beim ersten Versuch startete, würde er den Rumpf mit seiner 38-Millimeter durchlöchern und an Land schwimmen. Der Motor startete jedoch mit einem Brüllen, was Harry beinahe schade fand. Er wollte gerade den Gashebel nach vorne

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