Schneemann
persönlichen Seelsorgers vor sich zu haben.
“Mein Gott, Harry”, rief Stäle Aune aus. “Du siehst ja aus wie ein Skelett, bist du nicht gesund?”
Harry musste lächeln. Aune richtete sich auf und schnitt eine Grimasse.
“Tut mir leid, dass ich dich nicht früher besucht habe”, entschuldigte sich Harry und zog sich lärmend einen Stuhl ans Bett. “Es ist nur so - ich hab’s nicht so … mit Krankenhäusern … Ich weiß nicht.”
“Krankenhäuser erinnern dich an deine Mutter. Das ist schon in Ordnung.”
Harry nickte und starrte auf seine Hände. “Behandeln sie dich gut?”
“Das fragt man, wenn man jemanden im Gefängnis besucht, Harry, nicht im Krankenhaus.”
Harry nickte wieder.
Stäle Aune seufzte. “Ich kenne dich zu gut, Harry, ich weiß, dass das kein Höflichkeitsbesuch ist. Ich weiß, dass du dich trotzdem ehrlich um mich sorgst. Aber jetzt sag schon, was ist los?”
“Das kann warten. Ich sehe doch, dass du nicht in Form bist.” “Form ist relativ. Und so gesehen, bin ich in Topfarm. Du hättest mich mal gestern sehen sollen. Das heißt, gut, dass du mich gestern nicht gesehen hast.”
Harry lächelte seine Hände an.
“Geht es um den Schneemann?” Harry nickte.
“Endlich, ich langweile mich hier sonst noch zu Tode. Lass hören.”
Harry holte tief Luft. Dann gab er ihm eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse. Versuchte auf unnötige Informationen zu verzichten, ohne wesentliche Details auszulassen. Aune unterbrach ihn ein paar Mal mit kurzen Fragen, hörte ansonsten aber schweigend zu, wobei er ihn konzentriert, beinahe hingerissen anstarrte. Und als Harry zum Ende kam, schienen in dem kranken Mann neue Lebensgeister geweckt worden zu sein: Seine Wangen hatten wieder Farbe bekommen, und er saß deutlich aufrechter im Bett.
“Interessant”, bemerkte er schließlich, “aber du weißt doch schon, wer die Schuldige ist, warum kommst du dann zu mir?”
” Diese Frau ist doch verrückt, oder?”
“Menschen, die solche Verbrechen begehen, sind ausnahmslos verrückt. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass sie nicht schuldfähig wären.”
“Trotzdem gibt es da ein paar Dinge an ihr, die ich nicht verstehe”, gab Harry zu.
“Ach ja? Ich muss sagen, mir geht es mit den Menschen eher umgekehrt: Es gibt nur ein paar Dinge, die ich verstehe. Du musst von uns bei den wohl der bessere Psychologe sein, Harry.”
“Sie war erst neunzehn, als sie die beiden Frauen in Bergen und Gert Rafto tötete. Wie kann eine derart verrückte Person die psychologischen Tests auf der Polizeihochschule überstehen und all diese Jahre in ihrem Job funktionieren, ohne dass jemand etwas bemerkt?”
“Gute Frage. Vielleicht ist sie so ein Cocktail-Fall.” “Cocktail? “
“Eine Person, die irgend wie von allem etwas in sich vereint. Schizophren genug, um Stimmen zu hören, aber auch klar genug, um diese Krankheit vor ihrer Umwelt geheim zu halten. Zwanghafte Persönlichkeitsstörung, kombiniert mit einer üblen Paranoia, die zu Wahnvorstellungen über ihre Gegenwart und ihre Tätigkeit führt. Das Ganze wird von ihrer Umwelt aber nur als eine gewisse Verschlossenheit aufgefasst. Das Bestialische und die Wut in diesen Morden, die du beschrieben hast, stimmen mit einer Borderline-Persönlichkeit überein, aber eben einer, die ihre Wut kontrollieren kann.”
“Hm. Du hast also keine Ahnung?”
Aune lachte. Das Lachen wurde zu einem Husten.
” Tut mir leid, Harry”, röchelte er. “Das ist in den meisten Fällen so. Wir haben uns in der Psychologie eine Reihe von Boxen geschaffen, aber unsere Kühe wollen einfach nicht darin stehen. Es sind schlichtweg unverschämte, undankbare Sturköpfe. Denk doch nur an die ganze Forschungsarbeit, die wir uns gemacht haben!”
“Es gibt auch noch etwas anderes. Als wir die Leiche von Gert Rafto fanden, war Katrine wirklich zutiefst entsetzt. Ich meine, da hat sie nicht gespielt. Ich konnte den Schock in ihren Augen sehen, ihre Pupillen waren auch danach noch geweitet und schwarz und reagierten auch nicht, als ich ihr ins Gesicht leuchtete.” “Hoppla, das ist ja interessant!” Aune richtete sich noch ein Stückchen auf. “Warum hast du ihr ins Gesicht geleuchtet? Hast du sie damals schon verdächtigt?”
Harry antwortete nicht.
“Du kannst recht haben”, räumte Aune ein. “Sie kann die Morde verdrängt haben, das wäre nicht ungewöhnlich. Du sagst ja selbst, dass sie dir bei den Ermittlungen eine echte Hilfe gewesen ist und sie
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