Schneemann

liegt, der eigentlich gar nicht hier sein dürfte?”
    “O nein, das nicht. Jeder, der hier ist, hat seinen Körper testamentarisch zur Verfügung gestellt.”
    “Ich frage mich doch, ob das in jedem Fall so war”, gab Harry zurück und ging neben einer der Wannen in die Hocke.
    “Was?”
    “Jetzt hören Sie mir mal zu, Robole. Ich möchte Ihnen eine hypothetische Frage stellen. Und ich will, dass Sie genau nachdenken, bevor Sie mir antworten. Okay?”
    Der Präparator nickte kurz.
    Harry erhob sich zu seiner ganzen Größe: “Ist es denkbar, dass jemand, der Zugang zu diesen Räumen hat, abends Leichen über die Garage hierher bringt, ihnen Metallplättchen mit fiktiven Nummern anheftet, sie in diese Wannen legt und das von niemandem entdeckt wird?”
    Kai Robole zögerte. Kratzte sich noch heftiger am Kopf. Fuhr sich mit dem Finger über die unzähligen Ohrringe.
    Harry verlagerte sein Gewicht aufs andere Bein. Holms Mund hatte sich etwas geöffnet.
    “Tja”, meinte Robole zögernd. “Theoretisch steht dem nichts im Weg.”
    “Steht dem nichts im Weg?”
    Robole schüttelte den Kopf und lachte unsicher. “Nein, verdammt, das ist wirklich gut möglich.”
    “Wenn das so ist, will ich diese Leichen jetzt sehen.”
    Robole sah zu dem hochgewachsenen Polizisten auf. “Hier? Jetzt? “
    “Sie können hinten links anfangen.”
    “Ich glaube, da muss ich erst jemanden mit mehr Befugnissen anrufen.”
    “Wenn Sie unbedingt eine Mordermittlung verzögern wollen, bitte.”
    “Mordermittlung? ” Robole kniff ein Auge zu. “Sagt ihnen das Wort >Schneemann< etwas?”
    Robole blinzelte zweimal. Dann drehte er sich um, ging zu der Kette, die von der Motorwinde an der Decke herabhing, zog sie klirrend zur ersten Wanne und befestigte zwei Haken an der Metallplatte. Dann nahm er die Fernbedienung und drückte ein paar Knöpfe. Rasselnd begann die Winde die Kette einzuziehen, und die Abdeckung wurde langsam von der Wanne gezogen. Gespannt sahen Harry und Holm zu. An der Unterseite der Platte waren an einer vertikalen Halterung untereinander zwei weitere horizontale Platten befestigt, die jeweils in der Mitte längs geteilt waren. Auf jeder Seite des Mittelträgers lag eine nackte weiße Leiche. Die Körper sahen aus wie bleiche Puppen, ein Eindruck, der durch die schwarzen, viereckigen Löcher in den Schenkeln nur noch verstärkt wurde. Als die Leichen etwa in Hüfthöhe schwebten, stoppte der Präparator die Winde. Es war so still, dass sie das seufzende Echo des herabtropfenden Alkohols hörten, das von den weißen Fliesen widerhallte.
    “Und?”, fragte Robole.
    “Nein”, meinte Harry. “Die Nächste.”
    Der Präparator wiederholte die Prozedur. Vier neue Leichen stiegen aus der nächsten Wanne empor.
    Harry schüttelte abermals den Kopf.
    Als das dritte Quartett zum Vorschein kam, zuckte Harry zusammen. Kai Robole, der die Reaktion des Polizisten fälschlicherweise als das entsetzte Gesicht des medizinischen Laien deutete, grinste zufrieden.
    “Was ist das?”, wollte Harry wissen und deutete auf die Frau ohne Kopf.
    “Wahrscheinlich eine Rücksendung von einer anderen Universität”, vermutete Robole. “Unsere haben in der Regel Köpfe.”
    Harry beugte sich herab und berührte die Leiche, die sich kalt und aufgrund der Fixierung unnatürlich fest anfühlte. Mit einem Finger fuhr er über die Schnittfläche am Hals. Sie war glatt und das Fleisch blass.
    “Wir benutzen ein Skalpell und dann eine feine Säge”, erklärte der Präparator.
    “Hm.” Harry beugte sich über die Leiche, nahm den gegenüberliegenden Arm der Frau und zog ihn kräftig zu sich heran, so dass der Leichnam auf die Seite gedreht wurde.
    “Hey, was machen Sie da?”, rief Robole.
    “Siehst du irgendwas auf ihrem Rücken?” Harry wandte sich an Holm, der auf der anderen Seite der Wanne stand.
    Sein Kollege nickte. “Eine Tätowierung. Sieht aus wie eine Flagge.”
    “Was für eine?”
    “Keine Ahnung. Grün, gelb, rot. Mit einem Pentagramm in der Mitte.”
    “Äthiopien”, sagte Harry und ließ den Arm der Frau los, die wieder zurückkippte. “Die hier hat ihren Körper ganz sicher nicht zur Verfügung gestellt. Die ist zur Verfügung gestellt worden, um es mal so auszudrücken. Das ist Sylvia Ottersen.”
    Kai Robole blinzelte unaufhörlich mit den Augen, als hoffte er, die Geschehnisse wegwischen zu können, wenn er seine Lider nur heftig genug bewegte.
    Harry legte ihm eine Hand auf die Schulter: “Schaffen Sie mir