Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
des Schneemanns nach unten gleiten, kauerte sich zusammen und blieb dort still sitzen. Während er wartete, schossen ihm unzählige Gedanken durch den Kopf. Er war ein intelligenter Junge, das hatte er immer zu hören bekommen: sonderbar, aber begabt, hatten die Lehrer betont. Deshalb fielen alle Gedanken an ihren richtigen Platz, wie die Teilchen eines Puzzles, wenn er lange genug darüber gebrütet hatte. Dennoch war das Bild, das vor seinen Augen entstand, nicht zu begreifen, nicht auszuhalten. Das konnte doch nicht wahr sein. Aber es musste wohl wahr sein.
    Mathias hörte seinen keuchenden Atem.
    Es war wahr. Er fühlte es. Alles stimmte. Mutters Kälte gegenüber Papa. Die Gespräche, die sie vor ihm geheim zu halten versuchten, Papas verzweifelte Bitten, ihn nicht zu verlassen, nicht seinetwegen, sondern wegen Mathias, mein Gott, sie hätten doch ein gemeinsames Kind! Und Mutters bitteres Lachen. Das Bild von Großvater in diesem Fotoalbum, Mutters Lüge. Natürlich hatte Mathias es nicht geglaubt, als Stian aus seiner Klasse behauptete, die Mutter von Puppenmathias habe einen Lover oben in Moen, das habe seine Tante selbst gesagt. Schließlich war Stian genauso dumm wie all die anderen Quälgeister. So dumm, dass er nichts verstand. Nicht einmal, als seine Katze zwei Tage später oben am Fahnenmast der Schule hing.
    Und Papa hatte keine Ahnung. Mathias spürte von ganzem Herzen, dass sein Vater ihn für seinen … seinen Sohn hielt. Papa durfte nicht erfahren, dass es nicht so war. Niemals. Das wäre sein Tod. Lieber wollte Mathias selbst sterben. Ja, wirklich, das wollte er. Sterben, einfach weg, weit weg von Mutter, der Schule, Stian und … einfach allem. Er stand auf, trat gegen den Schneemann und rannte zum Auto.
    Und sie würde er mitnehmen. Auch sie sollte sterben.
    Als seine Mutter nach einer knappen Dreiviertelstunde endlich aus dem Haus kam, machte er ihr die Autotür auf.
    “Alles in Ordnung?”, fragte sie.
    “Nein “, antwortete Mathias und rutschte auf dem Rücksitz zur Seite, so dass sie ihn nicht sehen konnte. “Ich hab ihn gesehen.” “Was meinst du damit?”, fragte sie und drehte den Zündschlüssel.
    “Der Schneemann … “
    “Und, wie sah der Schneemann aus?” Der Motor des Autos startete mit einem Brüllen, und sie ließ die Kupplung so rasch kommen, dass ihm fast der Wagenheber aus der Hand gefallen wäre.
    ” Papa wartet auf uns”, sagte sie. ” Wir müssen uns beeilen.” Sie schaltete das Radio ein. Nur ein Nachrichtensprecher, der über den Wahlsieg von Ronald Reagan redete. Trotzdem stellte sie das Radio lauter. Nachdem sie den Hügel hinter sich gelassen hatten, fuhren sie hinunter Richtung Hauptstraße und Fluss. Auf dem Feld ragten steife, gelbe Halme aus dem Schnee.
    ” Wir werden sterben”, verkündete Mathias. “Wie bitte?”
    ” Wir werden sterben.”
    Sie drehte die Radiostimme leiser. Er machte sich bereit. Beugte sich zwischen den Sitzen vor und hob den Arm. ” Wir werden sterben”, flüsterte er.
    Dann schlug er zu.
    Der Schlag traf sie am Hinterkopf, und es gab ein hässliches Knirschen. Seine Mutter reagierte nicht weiter, sie erstarrte einfach auf dem Sitz. Dann schlug er noch einmal zu. Und noch einmal. Der Wagen ruckte etwas, als ihr Fuß von der Kupplung glitt, aber sie machte noch immer keinen Mucks. Vielleicht war das Sprachdings in ihrem Hirn zerstört, dachte Mathias. Beim vierten Schlag spürte er etwas nachgeben, als wäre der Kopf irgendwie weich geworden. Er wusste, dass sie jetzt nicht mehr bei Bewusstsein war. Der Toyota Corolla rollte ungebremst weiter, überquerte brav die Hauptstraße und das Feld auf der anderen Seite. Der Schnee bremste die Fahrt, jedoch nicht stark genug, um das Auto zu stoppen, und so rollte es weiter in den breiten, schwarzen Fluss. Blieb einen Moment quer zur Strömung stehen, bis diese den Wagen packte und im Kreis drehte. Wasser sickerte durch die Tür und die Hohlräume der Karosserie, durch die Handgriffe an der Seite und die Fenstereinfassung, während sie langsam flussabwärts trieben. Mathias sah aus dem Fenster, winkte einem Auto auf der Hauptstraße zu, doch die Insassen schienen ihn nicht bemerkt zu haben. Das Wasser im Auto stieg. Und plötzlich hörte er seine Mutter etwas murmeln. Er sah sie an, starrte auf den Hinterkopf mit den tiefen Dellen unter den blutigen Haaren. Sie bewegte sich unter dem Sicherheitsgurt. Das Wasser stieg jetzt schnell, es reichte Mathias bereits bis zu den Knien.

Weitere Kostenlose Bücher