Schneemann
Plötzlich spürte er aufsteigende Panik. Nein, er wollte nicht sterben. Nicht jetzt, nicht so. Also schwang er den Wagenheber gegen das Seitenfenster. Glas splitterte und Wasser schoss über den Fensterrand. Mathias kletterte auf den Sitz und quetschte sich durch den schmalen Spalt zwischen Autodach und hereinschießendem Wasser. Erschrocken merkte er, wie sich ein Stiefel am Rand des Fensters verhakte. Er ruckte seinen Fuß hin und her und spürte schließlich, wie ihm der Stiefel vom Fuß glitt. Dann war er frei und begann an Land zu schwimmen. Nun entdeckte er, dass ein Auto auf der Straße angehalten hatte und zwei Personen durch den Schnee zum Fluss rannten.
Mathias war ein guter Schwimmer. Er war in vielem gut. Weshalb konnten sie ihn alle nicht leiden? Ein Mann watete ins Wasser und zog ihn an Land, als er sich dem Ufer näherte. Mathias sank in den Schnee. Nicht weil er nicht stehen konnte, sondern weil er instinktiv wusste, dass es so am klügsten war. Er schloss die Augen und hörte eine aufgeregte Stimme neben seinem Ohr fragen, ob sonst noch jemand im Auto sei, ob sie noch jemanden retten könnten. Mathias schüttelte langsam den Kopf. Ob er sich auch sicher sei, fragte die Stimme.
Die Polizei sollte das Unglück später mit der glatten Straße erklären und mutmaßen, die Frau habe sich die Kopfverletzung bei dem Aufprall aufs Wasser zugezogen. Der Wagen selbst hatte zwar kaum sichtbare Schäden, aber schließlich gab es keine andere, plausible Erklärung. Und es war auch nur durch den Schock zu erklären, dass der Junge auf die Fragen der Helfer, ob sonst noch jemand im Auto sei, immer wieder das Gleiche geantwortet hatte: “Nein, nur ich. Ich bin allein.”
“Nein, nur ich”, wiederholte Mathias sechs Jahre später. “Ich bin allein.”
“Danke.” Der Junge stellte sein Tablett auf den Mensatisch, den Mathias bis dahin für sich allein gehabt hatte. Vor dem Fenster trommelte der Regen seinen üblichen Willkommensmarsch für die Medizinstudenten in Bergen, eine rhythmische Hymne, die noch den ganzen Frühling anhalten sollte.
“Auch gerade mit Medizin angefangen?”, erkundigte sich der andere, und Mathias sah das Messer in das fette Wiener Schnitzel eindringen.
Er nickte.
“Du sprichst doch 0stlandsdialekt”, sagte der andere. “Hast du in Oslo keinen Studienplatz gekriegt?”
“Ich wollte da nicht hin”, erwiderte Mathias. “Warum nicht?”
“Ich kenne da keinen.”
” Und wen kennst du hier?” “Keinen. “
“Ich auch nicht. Wie heißt du überhaupt?” “Mathias. Lund-Helgesen. Und du?”
“Idar Vetlesen. Warst du schon mal auf dem Ulriken?” “Nein.”
Doch Mathias war schon einmal auf dem Ulriken gewesen. Wie auf dem Floyen und dem Sandviksfjellet. Er war durch alle Gassen gelaufen, über den Fischmarkt und alle öffentlichen Plätze, hatte die Pinguine und Seelöwen im Aquarium gesehen, in der Wesselstue Bier getrunken, eine neue, aufgedrehte Band in der Garage auftreten und Brann im eigenen Stadion verlieren sehen. All das, was man mit seinen Mitstudenten machen sollte, hatte Mathias schon gemacht. Allein.
Gemeinsam mit Idar absolvierte er die Runde ein zweites Mal, ließ sich aber nichts anmerken.
Mathias stellte rasch fest, dass Idar eine Klette war, und indem er sich an diese Klette klettete, kam Mathias auch in Kontakt mit anderen Menschen.
“Warum studierst du Medizin?”, fragte Idar auf einer sogenannten Vorparty bei einem Kommilitonen mit einem traditionsreichen Bergener Namen, kurz vor Beginn des jährlichen Herbstballs der Medizinstudenten. Idar hatte zwei süße Mädchen aus Bergen mitgebracht, die mit hochgesteckten Haaren und knappen schwarzen Kleidchen neben ihnen saßen und das Gespräch neugierig verfolgten.
“Um die Welt zu einem etwas besseren Ort zu machen”, erklärte Mathias und trank den Rest seines lauwarmen Hansa-Biers aus. “Und du?”
“Um Geld zu verdienen, ist doch klar”, antwortete Idar und zwinkerte den Mädchen zu.
Eines von ihnen setzte sich neben Mathias.
“Du trägst eine Blutspendermarke”, stellte sie fest. “Was hast du für eine Blutgruppe?”
“B Rhesus negativ. Und was machst du so?”
“Ach, nicht der Rede wert. B Rhesus negativ? Ist das nicht total selten?”
“Doch. Woher weißt du das?”
“Ich gehe auf die Schwesternschule.”
“Ah ja”, sagte Mathias. “Ich welchem Jahr?” “Im dritten.”
“Hast du vor, dich irgendwie zu spezialisi … “
“Lass uns doch jetzt nicht über so was
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