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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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ganz schrecklich.” Der Barkeeper starrte verwundert auf das unangetastete Bier, den Fünfziger auf dem Tisch und den breiten Rücken, der durch die Tür verschwand, während Johnny Cash ausatmete.
    “Sylvia wäre auf keinen Fall einfach so weggegangen”, beteuerte Rolf Ottersen.
    Rolf Ottersen war dünn. Genauer gesagt, ein Gerippe. Aus seinem bis oben zugeknöpften Flanellhemd ragte ein langer, magerer Hals hervor, auf dem ein Kopf saß, der Harry an einen Wattvogel erinnerte. Aus den Ärmeln hingen schmale Hände mit langen, dünnen Fingern, die sich unablässig verknoteten, wanden und zuckten. Die Nägel der rechten Hand waren lang und spitz gefeilt wie Klauen. Die Augen wirkten ungewöhnlich groß hinter der dicken Brille mit der runden Stahlfassung, dem Lieblingsmodell der Radikalen in den Siebzigern. An der senfgelben Wand hing ein Plakat, das Indianer zeigte, die eine Anakonda trugen. Harry kannte das Bild von einem Joni-Mitchell-Album aus der Hippie-Steinzeit. Daneben hing die Reproduktion eines bekannten Frida-Kahlo-Porträts. Leidende Frau, dachte Harry. Ein Bild, das sich eine Frau ausgesucht hatte. Das Zimmer mit dem unbehandelten Kiefernboden wurde von Lampen erhellt, die wie eine Mischung aus alten Paraffinlampen und braunen Lederleuchten aussahen. Sie konnten gut und gern selbstgemacht sein. An der einen Wand lehnte eine Gitarre mit Nylonsaiten, die vermutlich Rolf Ottersens gefeilte Fingernägel erklärte.
    “Wie meinen Sie das, sie wäre auf keinen Fall einfach so weggegangen?”, fragte Harry.
    Vor ihnen stand ein Tisch, auf den Rolf Ottersen ein Foto von seiner Frau und den zehnjährigen Zwillingen, Olga und Emma, gelegt hatte. Sylvia Ottersen hatte große, etwas schläfrige Augen, wie jemand, der sein ganzes Leben lang eine Brille getragen hatte und es jetzt mit Kontaktlinsen versuchte oder seine Sehkraft durch eine Laseroperation zurückgewonnen hatte. Die Zwillinge hatten die Augen ihrer Mutter.
    “Sie hätte etwas gesagt”, beharrte Rolf Ottersen. “Eine Nachricht hinterlassen. Es muss etwas passiert sein.”
    Trotz der Verzweiflung klang seine Stimme gedämpft und mild.
    Rolf Ottersen zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und führte es zu dem schmalen, blassen Gesicht, in dem die Nase abnorm groß erschien. Er schnäuzte sich kurz und laut.
    Skarre steckte den Kopf durch die Tür. “Die Hundestaffel ist da. Sie haben auch einen Leichenhund mit.”
    “Dann legt mal los! “, sagte Harry. “Hast du mit allen Nachbarn gesprochen? “
    “Jau, aber noch immer nichts Neues. “
    Skarre schloss die Tür, und Harry entdeckte, dass Ottersens Augen noch größer geworden waren.
    “Ein Leichenhund?”, hauchte er.
    “Das ist nur so ein Ausdruck”, wiegelte Harry ab und machte sich eine Notiz im Hinterkopf, dass er Skarre ein paar Tipps in Sachen Ausdrucksweise geben musste.
    “Dann verwenden Sie die also auch, um nach lebenden Menschen zu suchen?” Der Tonfall des Ehemanns klang flehend.
    “Aber sicher”, log Harry, statt ihm zu erklären, dass Leichenhunde nur an Stellen anschlugen, an denen tote Menschen gelegen hatten. Weder für Drogen noch für verlorene Gegenstände oder lebende Wesen waren sie zu gebrauchen. Die nutzte man nur für Tote. Punkt. Aus. Ende.
    “Sie haben sie also heute Nachmittag um vier Uhr zum letzten Mal gesehen?”, fragte Harry und blickte auf seine Notizen. “Bevor Sie mit Ihren Töchtern in die Stadt gefahren sind. Was haben Sie da eigentlich gemacht?”
    “Ich war im Laden, während die Mädchen Geigenstunde hatten.”
    “Im Laden?”
    “Wir haben ein kleines Geschäft in Majorstua. Handgemachte afrikanische Kunst, Möbel, Decken, Kleider, alles Mögliche. Wir importieren das direkt von den Herstellern, die ordentlich dafür bezahlt werden. Eigentlich kümmert sich hauptsächlich Sylvia darum, aber donnerstags haben wir immer lange geöffnet, und dann wechseln wir uns ab. Sie kommt mit dem Auto nach Hause, und dann fahre ich mit den Mädchen wieder runter. Ich bin im Laden, während die beiden im Barrat Due Geigenstunde haben. Von fünf bis sieben. Anschließend hole ich sie ab, und wir fahren wieder nach Hause. Kurz nach halb acht waren wir wieder hier oben.”
    “Hm. Wer arbeitet sonst noch im Laden?” “Niemand. “
    “Aber das heißt dann doch, dass Sie donnerstags, wenn eigentlich alles auf ist, etwa eine Stunde geschlossen haben?”
    Rolf Ottersen verzog seinen Mund zu einem Lächeln. “Es ist ein sehr kleiner Laden. Wir haben nicht viele

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