Schneemann
von Sylvia denn noch so zu berichten? “
“Wenn ich nicht aufpasse, werden wir noch dicke Freundinnen”, seufzte Katrine und legte die Hände auf die Knie. Sie trug eine Strumpfhose.
“Lass hören.”
“Tja”, begann sie, und Harry stellte fest, dass sie seine Marotte, jeden zweiten Satz mit “Tja” zu eröffnen, offensichtlich schon übernommen hatte. “Ane hat mir erzählt, Sylvia und Rolf seien der Meinung gewesen, er müsse sich glücklich schätzen, dass diese Beziehung überhaupt zustande gekommen war. Während alle anderen in ihrem Umfeld das wohl anders sahen. Rolf war gerade auf der Ingenieurschule in Bergen fertig geworden und nach Oslo gezogen, wo er einen Job bei Kvxrner gefunden hatte. Sylvia gehörte eher zu den Menschen, die jeden Morgen beim Aufwachen eine neue Idee haben, was sie aus ihrem Leben machen könnten. Sie hatte ein halbes Dutzend Studiengänge begonnen und es auf keiner Arbeitsstelle länger als ein halbes Jahr ausgehalten. Sie war starrsinnig, aufbrausend und verwöhnt, eine erklärte Sozialistin, die von Gedanken angezogen wurde, die das eigene Ich verleugneten. Die wenigen Freundinnen, die sie hatte, manipulierte sie, und die Männer, mit denen sie zu tun hatte, hielten es alle nicht lange aus und verließen sie wieder. Ihre Schwester meinte, Rolf habe sich so in sie verliebt, weil sie das absolute Gegenteil von ihm war. Er war brav in die Fußstapfen seines Vaters getreten und hatte die Ingenieursausbildung gemacht. Zudem stammte er aus einem Elternhaus, das an die unsichtbare, wohlwollende Hand des Kapitalismus und an das bürgerliche Glück glaubte. Sylvia hingegen war der Ansicht, die westliche Zivilisation bestehe aus Materialisten und korrupten Menschen, die ihre eigene Identität und die Quelle des wahren Glücks vergessen hätten. Und irgendein König in Äthiopien sei der wiedergeborene Messias.”
“Haile Selassie”, präzisierte Harry. “Der Rastafari-Glauben.” “Was du alles weißt.”
“Bob-Marley-Platten. Tja, aber das erklärt vielleicht ihren Hang zu Afrika.”
“Vielleicht.” Katrine veränderte ihre Sitzposition, schlug das linke Bein über das rechte, und Harry versuchte, den Blick abzuwenden. “Rolf und Sylvia haben sich auf jeden Fall ein Jahr freigenommen und sind quer durch Westafrika gereist. Das war für beide so etwas wie ein geistiger Neubeginn. Rolf entdeckte seine Berufung, Afrika wieder auf die Beine zu helfen. Sylvia hingegen, die sich eine große äthiopische Flagge auf den Rücken hatte tätowieren lassen, entdeckte plötzlich, dass sich alle Menschen selbst am nächsten sind, auch in Afrika. Dann gründeten sie ihren Laden, das Taste of Africa. Rolf tat es, um einem armen Kontinent zu helfen, Sylvia, weil die Kombination aus billigen Importen und staatlichen Fördergeldern nach leicht verdientem Geld aussah. Aus den gleichen Beweggründen ist sie in Fornebu wohl auch einmal mit einem Rucksack voll Marihuana geschnappt worden, als sie aus Lagos zurückkam.”
“Ach, sieh an.”
“Sylvia selbst bekam nur eine kurze Bewährungsstrafe, da sie glaubhaft versichern konnte, sie habe nicht gewusst, was sich in dem Rucksack befand. Angeblich hatte sie einer nigerianischen Familie einen Freundschaftsdienst erwiesen und wollte den Rucksack dem Sohn der Familie bringen, der in Norwegen wohnte.”
“Hm, was sonst noch?”
“Ane mag Rolf. Er ist nett, nachdenklich und liebt seine Kinder über alles. Aber was Sylvia anging, war er wohl blind. Zweimal hat sich Sylvia in andere Männer verliebt und ist sogar zu Hause ausgezogen. Aber beide verließen sie wieder, woraufhin Rolf und die Kinder sie wieder aufgenommen haben.”
“Was meinst du, warum ist sie bei ihm geblieben?”
Katrine Bratt lächelte ein beinahe trauriges Lächeln, starrte vor sich hin und fuhr sich mit der Hand über den Rocksaum: “Das Übliche, denke ich. Niemand schafft es, jemanden zu verlassen, mit dem man guten Sex hat. Man kann es versuchen, kommt aber immer wieder zurück. Wir sind einfach so, nicht wahr?”
Harry nickte langsam. “Und was ist mit den Männern, die sie verlassen haben und nicht zurückgekehrt sind?”
“Männer sind anders. Einige von ihnen kriegen es bei dem Leistungsdruck mit der Angst zu tun.”
Harry sah sie an. Und entschloss sich, das Thema nicht weiterzuverfolgen.
“Hast du Rolf Ottersen noch getroffen?”
” Ja, er kam zehn Minuten, nachdem du weg warst”, berichtete Katrine. “Und er sah besser aus als neulich. Von der
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