Schneemann
durch die großen, dunklen Räume in das Zimmer mit all den Büchern an den Wänden geführt hatte. Mikkjel Fenhus. Kjell Aukrust. Einar Gerhardsens Memoiren. Dicke Klassiker und politische Biographien. Ein ganzes Regal voll vergilbter Ausgaben von Das Beste. Harry hatte nicht einen einzigen Titel ausmachen können, der nach 1970 veröffentlicht worden war.
“Oh, ich weiß schon, wie ich das verstehen soll”, gluckste Idar. Harry hatte mittlerweile eine Vermutung, was Mathias mit der Äußerung gemeint haben könnte, dass sie in der Marienlyst-Klinik so viel Spaß gehabt hätten: Wahrscheinlich hatten sie darum gewetteifert, wer am meisten lachte.
“Mathias, dieser Glückspilz. Der ist wirklich gesegnet.” Idar Vetlesen lachte dröhnend. “Meine harmlosen Kollegen behaupten immer, nicht an Gott zu glauben, dabei sind sie doch bloß verängstigte moralische Streber, die aus Angst vor dem Fegefeuer so viele gute Taten wie nur möglich anhäufen wollen.”
“Und Sie nicht?”, fragte Harry.
Idar zog eine seiner wohlgeformten Augenbrauen hoch und sah Harry interessiert an. Er trug weiche hellblaue Hausschuhe mit offenen Schnürsenkeln, Jeans und ein weißes Tennishemd, auf dessen linker Brust ein Polospieler prangte. Harry fiel der Name der Marke nicht ein, nur dass er sie aus irgendeinem Grund mit langweiligen Menschen verband.
“Herr Kommissar, ich stamme aus einer praktisch veranlagten Familie. Mein Vater war Taxifahrer. Wir glauben, was wir sehen.” “Hm. Ein schönes Haus für einen Taxifahrer.”
“Er hatte ein Taxiunternehmen mit drei Lizenzen. Aber ein Taxifahrer ist und bleibt hier auf Bygdey ein Diener, ein Plebejer.”
Harry musterte den Arzt und fragte sich, ob er Speed oder irgendwelche anderen Pillen nahm. Vetlesen saß zurückgelehnt in einem Sessel und sah beinahe übertrieben entspannt aus, als wollte er Unruhe oder Aufregung kaschieren. Der Gedanke war Harry schon gekommen, als er so freundlich hereingebeten wurde, nachdem er an der Tür geklingelt, sich ausgewiesen und um ein paar Informationen gebeten hatte.
“Aber Sie wollten nicht Taxi fahren?”, fragte Harry. “Sie wollten … Menschen verschönern?”
Vetlesen lächelte. “Sie können ruhig sagen, dass ich meine Dienste auf dem Markt der Eitelkeiten feilbiete. Oder dass ich das Äußere der Menschen repariere, um die inneren Schmerzen zu lindern. Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Mir ist das eigentlich egal.” Vetlesen lachte, als wollte er Harrys Schockiertheit zuvorkommen, doch als er bemerkte, dass der keine Miene verzog, machte er ein ernsteres Gesicht. “Ich sehe in mir so etwas wie einen Bildhauer. Für mich ist die Medizin keine Berufung. Es gefällt mir, das Aussehen der Menschen zu verändern, Gesichter zu formen. Das hat mir immer schon Spaß gemacht. Ich verstehe mich darauf, und die Menschen bezahlen mich gut dafür. Das ist alles.”
“Hm.”
“Aber das bedeutet nicht, dass ich keine Prinzipien habe. Und die Schweigepflicht ist eine davon.”
Harry antwortete nicht.
“Ich habe mit Borghild gesprochen”, fuhr er fort. “Ich weiß, was Sie wissen wollen, Herr Kommissar. Und ich sehe auch ein, dass es um eine ernste Sache geht. Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich bin an meine ärztliche Schweigepflicht gebunden.”
“Jetzt nicht mehr.” Harry nahm den zusammengefalteten Zettel aus der Innentasche seiner Jacke und legte ihn auf den Tisch. “Das ist eine Erklärung des Vaters der Zwillinge, die Sie der Schweigepflicht enthebt.”
Idar schüttelte den Kopf. “Das reicht nicht.” Harry legte die Stirn in Falten: “Nein?”
“Ich kann Ihnen nicht sagen, wer bei mir war und was gesagt hat. Ich kann Ihnen jedoch sagen, dass auf ausdrücklichen Wunsch die Schweigepflicht generell auch dann gilt, wenn jemand mit seinen Kindern kommt und der Ehepartner davon nichts erfahren soll.”
“Warum sollte Sylvia Ottersen ihrem Mann gegenüber verschweigen, dass sie mit den Zwillingen bei Ihnen war?”
“Unser Vorgehen mag Ihnen etwas starrköpfig erscheinen. Aber bedenken Sie, dass viele unserer Patienten prominent sind, da können schnell Gerüchte aufkommen. Sehen Sie sich mal an einem Freitagabend im Kunstnernes Hus um. Sie glauben ja gar nicht, wie viele der Gäste das eine oder andere bei mir haben richten lassen. Die würden alle vor Entsetzen in Ohnmacht fallen, wenn so etwas an die Öffentlichkeit käme. Unser Renommee baut auf Diskretion auf. Sollte herauskommen, dass wir Patienteninformationen
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