Schneemann
völlig verrenkte Körperhaltung stimmte in Katrines Schrei ein. Aber nicht deswegen drehte es Harry den Magen um. Als er die Schranktür aufgebrochen hatte, war der Körper nach vorne gekippt, so dass der Kopf gegen die obere Kante des Gefrierschranks schlug. Dadurch hatten sich die Eiskristalle gelöst, und Harry konnte sofort erkennen, dass es Gert Rafto war, der sie aus dem Inneren angrinste. Doch er grinste nicht mit dem Mund, der war mit einer groben, hanfartigen Schnur zugenäht worden, die im Zickzack über seine Lippen verlief. Das Grinsen, das an seinem Kinn begann und auf beiden Seiten des Gesichts bis zu den Wangen empor führte, war mit schwarzen Nägeln gezeichnet worden, die man ihm in den Kopf geschlagen haben musste. Am meisten jedoch fiel die Nase auf. Trotzig würgte Harry die Galle wieder herunter. Nasenbein und Knorpel mussten dafür zuerst entfernt worden sein. Die Kälte hatte jegliche Farbe aus der Karotte gesogen. Aber der Schneemann war komplett.
TEIL III
KAPITEL 15 9. Tag. Die Acht
Es war bereits acht Uhr abends, aber trotzdem brannte, sichtbar für alle, auf der ganzen sechsten Etage des Polizeipräsidiums noch Licht. Im Morddezernat.
Harry gegenüber saßen Holm und Skarre, Espen Lepsvik, der Kriminalchef und Gunnar Hagen. Es waren sechseinhalb Stunden vergangen, seit sie Gert Rafto auf Finnoy gefunden hatten, und vier, seit Harry aus Bergen angerufen und die Sitzung anberaumt hatte, bevor er selbst zum Flughafen gefahren war.
Er erstattete Bericht, und sogar der Kriminalchef zuckte beim Anblick der Bilder zusammen, die ihnen die Kollegen aus Bergen gemailt hatten.
“Der Obduktionsbericht ist noch nicht fertig”, schloss Harry. “Aber die Todesursache ist ziemlich klar. Ein Schuss in den Mund. Die Kugel ist durch den Gaumen gedrungen und am Hinterkopf wieder ausgetreten. Das ist vor Ort passiert, die Leute aus Bergen haben bereits die Kugel in der Wand des Kellerverschlags gefunden.”
“Blut und Hirnmasse?”, fragte Skarre. “Nein”, antwortete Harry.
“Dazu ist es schon viel zu lange her”, belehrte ihn Lepsvik. “Ratten, Insekten … “
“Es hätte schon noch Reste von Spuren geben können”, widersprach Harry. “Aber ich habe mit dem Gerichtsmediziner gesprochen. Vermutlich hat Rafto selbst mitgeholfen, größere Schweinereien zu vermeiden.”
“Hä?”, grunzte Skarre.
“O nein”, stöhnte Lepsvik.
Dann schien es auch Skarre zu dämmern, und sein Gesicht verzerrte sich voller Abscheu: ” Mein Gott … “
“Entschuldigung”, mischte sich Hagen wieder ins Gespräch. “Aber kann mir bitte mal jemand erklären, wovon hier die Rede ist?”
“Das ist ein Phänomen, das wir manchmal auch bei Selbstmördern finden”, erläuterte Harry. “Manche Opfer saugen die Luft aus dem Lauf, bevor sie sich selbst erschießen. Das Vakuum führt dazu, dass es weniger … ” Er suchte nach dem richtigen Wort. ” … Dreck gibt. In unserem Fall hat man Rafto vermutlich befohlen, die Luft herauszusaugen.”
Lepsvik schüttelte den Kopf. “Und ein Polizist wie Rafto muss genau gewusst haben, warum.”
Hagen wurde blass. “Aber wie … wie um alles in der Welt bringt man einen Mann dazu … ?”
“Vielleicht hatte er die Wahl”, meinte Harry. “Es gibt schlimmere Todesarten als eine Kugel in den Mund.” Auf einmal machte sich drückendes Schweigen breit. Und Harry ließ diese Stille ein paar Sekunden wirken, ehe er fortfuhr:
“Bis jetzt haben wir die Körper der Opfer noch nicht gefunden.
Auch Rafto wurde versteckt, aber der wäre ziemlich schnell gefunden worden, wenn die Angehörigen die Hütte nicht gemieden hätten. Das führt mich zu der Annahme, dass Rafto für den Mörder nicht Teil seines großen Projekts war.”
“Und Sie halten ihn also für einen Serientäter ?” In der Stimme des Kriminalchefs lag keinerlei Provokation, bloß der Wunsch nach Bestätigung.
Harry nickte.
“Wenn das kein Teil dieses sogenannten Projekts gewesen ist, was kann dann das Motiv gewesen sein?”
“Das wissen wir nicht. Aber wenn ein Mordermittler ermordet wird, liegt es nahe, dass er eine Gefahr für den Täter darstellte.”
Espen Lepsvik räusperte sich. “Manchmal erlaubt einem die Art, wie die Leichname behandelt werden, Rückschlüsse auf die Motive. In diesem Fall ist die Nase der Leiche durch eine Karotte ersetzt worden. Also eine lange Nase.”
“Macht er sich über uns lustig?”, fragte Hagen.
“Möglich, vielleicht ist es aber auch eine
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