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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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sich so überlegt, was die als Jugendliche durchmachen musste.”
    Harry fiel die Ausdrucksweise seines Gegenübers auf. Es klang so allmächtig - typisch für kleinere Polizeidienststellen, in denen die Beamten immer alles zu wissen glaubten.
    “Rafto hatte eine Hütte auf Finnoy, stimmt’s?”, fragte Harry. “Ja, und das wäre natürlich ein naheliegender Zufluchtsort. Um nachzudenken und … ” Müller-Nilsen fuhr sich mit einer seiner großen Hände über die Kehle. “Wir haben die Hütte durchsucht und die ganze Insel. Nichts.”
    “Ich könnte mir vorstellen, da selbst mal rauszufahren. “
    “Da gibt es nicht viel zu sehen. Unsere Hütte liegt direkt gegenüber der von Eisen-Rafto. Im Übrigen ist die schon ziemlich verfallen. Es ist eine Schande, dass seine Frau nichts damit zu tun haben will, sie ist nie da.” Müller-Nilsen sah auf die Uhr. “Ich muss jetzt in eine Sitzung, aber einer unserer Hauptkommissare, der damals mit dabei war, wird mit Ihnen die Berichte durchgehen.”
    “Das ist nicht nötig”, wehrte Harry ab und betrachtete das Bild, das auf seinem Schoß lag. Das Gesicht kam ihm auf einmal seltsam bekannt vor, als hätte er es erst vor kurzem gesehen. Bei jemandem, der sein Äußeres verändert hatte oder den er nur flüchtig bemerkt hatte? Jemand Unwichtiges, den er nicht wirklich beachtet hatte, vielleicht ein Ordnungsbeamter auf der Sofies gate oder ein Verkäufer im Vinmonopol? Harry gab auf.
    “Gert haben Sie ihn nicht genannt?” “Wie bitte?”, fragte Müller-Nilsen.
    “Sie sprachen von Eisen-Rafto. Sie haben ihn also nicht Gert genannt?”
    Müller-Nilsen sah Harry verunsichert an und versuchte, sich ein Lachen abzuringen, aber es wurde nur ein schiefes Grinsen. “Nein, ich glaube, auf die Idee wären wir nie gekommen.” “Nun, dann danke ich Ihnen für Ihre Hilfe.”
    Auf dem Weg nach draußen hörte Harry Müller-Nilsen noch etwas rufen. Er drehte sich um und sah den Dezernatsleiter in der Tür stehen. Seine Worte erzeugten zwischen den Flurwänden ein kurzes, zitterndes Echo:
    “Ich glaube, Eisen-Rafto hätte das aber auch nicht gewollt.” Harry blieb vor dem Präsidium stehen und betrachtete die Menschen, die sich durch Wind und Regen geduckt über die Bürgersteige kämpften. Er wurde das Gefühl einfach nicht los, dass sich etwas ganz in der Nähe befand, in seinem innersten Kreis, etwas oder jemand, den er entdecken konnte, wenn er nur richtig hinsah.
    Katrine holte Harry zum vereinbarten Zeitpunkt am Anleger ab.
    “Ich konnte mir das Boot von einem Freund leihen”, erklärte sie, während sie das sieben Meter große Schärentaxi durch die enge Hafeneinfahrt steuerte. Als sie um Nordneset herumfuhren, hörte Harry einen Laut und drehte sich um. Sein Blick fiel auf einen Totempfahl, von dem hölzerne Gesichter heiser aus offenen Mündern schrien. Ein kalter Hauch strich über das Boot.
    “Das sind die Seelöwen im Aquarium”, erklärte Katrine. Harry zog den Mantel fester um sich.
    Die Insel Finnoy war recht klein. Abgesehen von Heide hatte das regengepeitschte Eiland nicht viel Vegetation zu bieten, aber es verfügte immerhin über einen Anleger, an dem Katrine das Boot fachgerecht vertäute. Die Sommerhaussiedlung bestand aus insgesamt sechzig Einheiten in Puppenstubengröße und erinnerte Harry an die Wohnungen der Grubenarbeiter, die er in Soweto gesehen hatte.
    Katrine führte Harry über einen Schotterweg zu den Hütten und steuerte auf die zu, die sich wegen der von ihr abblätternden Farbe deutlich von den anderen abhob. Eines der Fenster hatte einen Sprung. Katrine stellte sich auf die Zehenspitzen, packte die kugelförmige Glaslampe über der Tür und schraubte sie ab. Ein kratzendes Geräusch meldete sich aus dem Inneren, als sie die Kugel umdrehte und tote Insekten herausrieselten. Und ein Schlüssel, den sie in der Luft auffing.
    “Seine Exfrau mochte mich.” Katrine steckte den Schlüssel ins Schloss.
    Es roch nach Schimmel und modrigem Holz. Harry starrte ins Halbdunkel, bis er einen Lichtschalter hörte und es mit einem Mal hell wurde.
    “Sie hat den Strom nicht abbestellt, obwohl sie nie hierherkommt?”, fragte er.
    “Gemeinschaftsstrom”, erklärte Katrine und drehte sich langsam um. “Geht auf Kosten der Polizei.”
    Die Hütte hatte nur fünfundzwanzig Quadratmeter und bestand aus einer kombinierten Wohnküche und einem Schlafzimmer. Auf Anrichte und Esstisch standen leere Bierflaschen. Die Wände waren kahl, ebenso die

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