Schneemann
einen Zeugen. Den Besitzer des Leon. Außerdem haben wir Fotos, die Vetlesen mit diesem Etablissement in Verbindung bringen.”
“Tut mir leid, wenn ich das so sage”, mischte sich Espen Lepsvik ein. “Aber ich kenne diesen Typen im Leon. Der wird niemals eine Zeugenaussage machen. Diese Anklage könnt ihr niemals aufrechterhalten, ihr werdet ihn im Laufe von vierundzwanzig Stunden wieder freilassen müssen, garantiert.”
“Ich weiß”, erwiderte Harry und sah auf die Uhr. Er rechnete aus, wie lange es dauern würde, nach Bygdoy zu fahren. “Und es ist unglaublich, was Menschen einem in vierundzwanzig Stunden so alles erzählen können.”
Harry drückte noch einmal auf die Klingel. Irgendwie war es wie in seiner Kindheit, in den Sommerferien, wenn alle weg waren und nur noch er in Oppsal war. Wenn er bei 0ystein oder bei einem der anderen geklingelt und gehofft hatte, dass sie wie durch ein Wunder doch zu Hause waren und nicht bei der Großmutter in Halden, im Sommerhäuschen in Son oder auf Campingtour in Dänemark. Wenn er sich dort vor den Türen die Füße platt gestanden hatte, bis er wusste, dass es nur noch eine einzige, letzte Möglichkeit gab: Holzschuh. Mit dem weder er noch 0ystein sonst spielen wollten, der sich aber trotzdem wie ein Schatten in ihrer Nähe aufhielt und darauf wartete, dass sie ihre Meinung änderten und ihn - wenn auch vorübergehend - in ihre Gemeinschaft aufnahmen. Vermutlich hatte er sich Harry und 0ystein ausgeguckt, weil die beiden auch nicht gerade zu den Beliebtesten zählten. Deshalb schätzte er seine Chancen, in diesen Club aufgenommen zu werden, größer ein als bei allen anderen. Und in diesen Momenten bot sich die Chance, weil er der Einzige war und Harry wusste, dass Holzschuh immer zu Hause war. Denn seine Familie hatte nie das Geld wegzufahren, und er besaß keine anderen Freunde, mit denen er hätte spielen können.
Harry hörte von drinnen das Schlurfen von Pantoffeln, ehe sich die Tür einen Spalt breit öffnete. Das Gesicht der Frau leuchtete auf. Genau wie das von Holzschuhs Mutter, wenn sie Harry sah. Sie bat ihn nie ins Haus, sondern rief Holzschuh - oder holte ihn-, schnauzte ihn an, zog ihm den hässlichen Parka über und schob ihn dann vor die Tür, wo er auf der Treppe stehen blieb und Harry anstarrte. In diesen Momenten war Harry klar, dass Holzschuh ganz genau Bescheid wusste. Er spürte seinen stillen Hass, während sie nach unten zum Kiosk schlenderten. Aber das war in Ordnung. So verging wenigstens die Zeit.
“Idar ist leider außer Haus”, erklärte Frau Vetlesen. “Aber wollen Sie nicht reinkommen und auf ihn warten? Er wollte nur einen kleinen Spaziergang machen, meinte er.”
Harry schüttelte den Kopf und fragte sich, ob sie das Blaulicht sehen konnte, das hinter ihm das abendliche Dunkel Bygdoys zerriss. Er hätte wetten können, dass das auf Skarres Konto ging.
” Wie lange ist er schon weg?”
“Seit kurz vor fünf.”
“Aber das ist doch schon Stunden her”, sagte Harry. “Hat er gesagt, wo er hin wollte?”
Sie schüttelte den Kopf. “Er erzählt mir doch nichts. Was sagen Sie dazu? Will nicht mal seiner eigenen Mutter erzählen, was er so treibt.”
Harry bedankte sich und kündigte an, er wolle später noch einmal vorbeikommen. Dann ging er über die Treppe und den Schotterweg hinunter zum Gartentor. Sie hatten Idar Vetlesen auch nicht im Leon oder in seiner Praxis gefunden, und das Curlingcenter war geschlossen. Harry zog das Tor hinter sich zu und ging zum Streifenwagen. Die Scheibe wurde herabgelassen.
“Schalten Sie das Blaulicht aus”, sagte Harry zum Fahrer und wandte sich an Skarre, der auf dem Rücksitz saß: “Sie sagt, er sei nicht zu Hause, und ich glaube, sie sagt die Wahrheit. Ihr wartet hier und passt auf, ob er zurückkommt. Ruf die Kriminalwache an und lass ihn zur Fahndung ausschreiben. Aber keine Meldung über Polizeifunk, verstanden?”
Als er mit dem Wagen zurück in die Stadt fuhr, rief Harry in der Telenor-Zentrale an. Torkildsen war aber bereits zu Hause, und eine formelle Anfrage zur Lokalisierung von Vetlesens Handy konnte erst am nächsten Morgen gestellt werden. Er legte auf und drehte Slipknots “Vermillion ” lauter, merkte aber gleich, dass er nicht in der richtigen Stimmung dafür war. Also drückte er die Eject-Taste, um stattdessen das Gil-Evans-Album aufzulegen, das er ganz hinten in seinem Handschuhfach gefunden hatte. Die 24-Stunden-Nachrichtensendung von NRK meldete sich,
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