Schneemann
während er mit der CD-Hülle kämpfte.
“Die Polizei fahndet in Verbindung mit den >Schneemannmorden< nach einem etwa 30-jährigen, auf Bygdoy wohnhaften Arzt.”
“Verdammte Scheiße!”, brüllte Harry und donnerte Gil Evans gegen die Windschutzscheibe, dass die Plastiksplitter nur so flogen. Die Disc rollte auf die Fußmatte, wo sie liegen blieb. Frustriert stieg Harry aufs Gas und überholte einen Tankwagen, der auf der linken Spur fuhr. Zwanzig Minuten. Es waren erst zwanzig Minuten vergangen. Warum gaben sie dem Präsidium nicht gleich ein Mikrofon und eine feste Sendezeit?
Die Kantine des Präsidiums war leer und aufgeräumt, aber trotzdem fand er sie dort mit ihrem Lunchpaket an einem Zweiertisch. Harry nahm auf dem anderen Stuhl Platz.
“Danke, dass du niemandem erzählt hast, wie ich auf Finnoy die Kontrolle verloren habe”, sagte sie leise.
Harry nickte. “Wo bist du denn hin?”
“Ich hab ausgecheckt und bin schon um drei mit dem Flieger zurück nach Oslo. Ich musste einfach weg.” Sie starrte in ihr Teeglas. “Tut mir … leid.”
“Schon in Ordnung”, beruhigte Harry seine Kollegin und betrachtete den schlanken, gebeugten Nacken, die hochgesteckten Haare und die feingliedrige Hand, die auf dem Tisch lag. Jetzt sah er sie ganz anders. ” Wenn die Harten die Kontrolle verlieren, verlieren sie sie immer gleich gründlich.”
“Warum?”
“Vielleicht weil sie es so wenig gewöhnt sind, die Kontrolle zu verlieren. “
Katrine nickte, den Blick noch immer auf das Teeglas mit dem Logo des Polizeisportvereins gerichtet.
“Du bist doch selbst so ein Kontrollfreak, Harry. Verlierst du nie die Kontrolle?”
Sie hob den Blick, und Harry dachte, dass es das intensive Leuchten ihrer Iris war, das dem Weiß ihrer Augen diesen Blauschimmer gab. Er griff nach der Zigarettenschachtel. “lch habe sogar reichlich Erfahrung darin, die Kontrolle zu verlieren. Phasenweise hab ich kaum noch etwas anderes gemacht. Ich habe den schwarzen Gürtel in Kontrollverlust.”
Der Anflug eines Lächelns huschte über ihre Lippen.
“Man hat mal die Gehirnaktivität routinierter Boxer gemessen”, erzählte er. “Wusstest du, dass sie in einem Kampf mehrmals das Bewusstsein verlieren? Nur für Sekundenbruchteile, mal hier, mal da. Trotzdem schaffen sie es irgendwie, auf den Beinen zu bleiben. Als wüsste ihr Körper, dass es nur vorübergehend ist. Er übernimmt dann die Kontrolle und hält sie lange genug aufrecht, bis das Bewusstsein wieder zurückkommt.” Harry schnippte eine Zigarette aus der Schachtel. “Ich hab da draußen in der Hütte auch die Kontrolle verloren. Nur weiß mein Körper nach all diesen Jahren, dass die Kontrolle zurückkommt.”
“Aber wie machst du das?”, fragte Katrine und strich sich eine Locke aus dem Gesicht. “Dass du nicht gleich beim ersten Mal ausgeknockt wirst?”
“Mach es wie die Boxer, folge dem Schlag und setz dich nicht dagegen zur Wehr. Wenn dir bei diesem Job irgendetwas nahe geht, dann lass es einfach zu. Auf lange Sicht kannst du es sowieso nicht auf Abstand halten. Nimm es Stück für Stück, und hinterher schleust du es wieder raus. Wie bei einem Stausee, damit es sich nicht aufstaut, bis der Damm bricht.”
Er steckte sich die unangezündete Zigarette zwischen die Lippen. “Ich weiß schon, das hat dir alles auch der Polizeipsychologe gesagt, als du noch Anwärterin warst. Mein eigentlicher Punkt kommt aber auch erst jetzt: Auch wenn es dir an die Nieren geht, musst du dir immer ganz genau bewusst machen, was du da spürst. Um jederzeit erkennen zu können, ob es dich kaputtmacht.”
“Okay”, sagte Katrine. “Und was machst du, wenn du spürst, dass es dich kaputtmacht?”
“Dann suchst du dir einen anderen Job.” Sie sah ihn lange an.
“Und was hast du gemacht, Harry? Was hast du gemacht, als du gespürt hast, dass es dich kaputtmacht?”
Harry biss leicht auf den Filter und spürte die weichen, trockenen Fasern unter den Zähnen knirschen. Sie hätte seine Tochter sein können, seine Schwester, sie schienen wirklich aus dem gleichen Holz geschnitzt zu sein. Hart, fest und schwer, mit großen, tiefen Rissen.
“Ich hab vergessen, mir einen anderen Job zu suchen”, räumte er ein.
Sie grinste breit. “Weißt du was?”, fragte sie dann leise. “Nein?”
Sie streckte die Hand aus, schnappte ihm die Zigarette zwischen den Lippen weg und beugte sich vor. “Ich finde … “
Die Kantinentür flog auf. Es war Holm.
“TV2”, sagte er.
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