Schneemann
“Es läuft gerade in den Nachrichten. Namen und Bilder von Rafto und Vetlesen.”
Und damit begann das Chaos. Obwohl es bereits elf Uhr abends war, wimmelte es im Foyer des Präsidiums nach einer halben Stunde schon von Journalisten und Fotografen. Alle warteten auf den Leiter der Sonderkommission, Espen Lepsvik, den Dezernatsleiter oder den Polizeipräsidenten, einfach irgendjemanden, der nach unten kam und ein Statement abgab. Die Polizei musste schließlich ihrer Verantwortung gerecht werden, die Öffentlichkeit bei einem derart ernsten, erschütternden Fall auf dem Laufenden zu halten.
Harry stand am Geländer des Atriums und sah auf sie herab. Sie umkreisten einander wie ruhelose Haie, berieten sich, versuchten sich auszutricksen, halfen einander, blufften und legten Köder aus. Hatte jemand etwas gehört? Gab es in der Nacht noch eine Pressekonferenz? Wenigstens eine kurze, improvisierte? War Vetlesen bereits auf dem Weg nach Thailand? Die Deadline näherte sich, es musste etwas geschehen.
Harry hatte gelesen, dass das Wort Deadline von den Schlachtfeldern des amerikanischen Bürgerkriegs stammte. Damals hatte man in Ermangelung eines richtigen Zauns, hinter dem man die zusammengetriebenen Kriegsgefangenen hätte einsperren können, einen Kreis um sie auf den Boden gezeichnet. Diese Linie wurde Deadline getauft. Jeder, der sie überschritt, wurde erschossen. Genauso verhielt es sich mit den Journalisten dort unten. Sie waren Nachrichtenkrieger, die von einer Deadline an ihrem Platz gehalten wurden.
Harry war gerade auf dem Weg zu den anderen, die sich bereits im Sitzungszimmer versammelt hatten, als sein Handy klingelte. Es war Mathias.
“Hast du die Nachricht erhalten, die ich dir auf den Anrufbeantworter gesprochen habe? “, wollte er wissen.
“Ich bin noch nicht dazu gekommen, meinen AB abzuhören”, antwortete Harry. “Hier ist die Hölle los. Können wir das später machen?”
“Natürlich”, sagte Mathias. “Aber es geht um Idar. Ich habe in den Nachrichten gesehen, dass nach ihm gefahndet wird.” Harry nahm das Handy in die andere Hand. “Schieß los.” “Idar hat mich heute früh angerufen und über Carnadrioxid ausgefragt. Manchmal ruft er mich an und erkundigt sich nach gewissen Medikamenten, Pharmakologie ist nicht gerade seine Stärke. Deshalb hab ich mir nicht so wirklich Gedanken darüber gemacht, aber Carnadrioxid ist ein hochgiftiges Medikament. Ich denke, das solltet ihr wissen.”
“Natürlich, natürlich.” Harry durchwühlte seine Taschen, bis er einen angekauten Bleistiftstummel und ein Straßenbahnticket fand. “Carna … “
“Carnadrioxid. Dieses Medikament enthält das Gift der Kegelschnecke und kommt als schmerzstillendes Mittel bei Krebs-und HIV-Patienten zur Anwendung. Es ist tausendmal stärker als Morphium, und schon eine minimale Überdosierung lähmt die Muskeln augenblicklich. Die Atmungsorgane und das Herz versagen, der Tod tritt sofort ein.”
Harry notierte. “Okay, was hat er sonst noch gesagt?” “Nichts. Er hörte sich gestresst an. Hat sich bloß bedankt und dann aufgelegt.”
“Hast du eine Idee, von wo aus er angerufen haben kann?” “Nein, aber die Akustik war irgendwie merkwürdig. Er hat mit Sicherheit nicht aus seiner Praxis angerufen. Es hörte sich an, als stünde er in einer Kirche oder in einer Höhle, verstehst du?” “Ich verstehe, danke Mathias, wir melden uns noch mal, wenn wir noch weitere Details brauchen.” “Gerne, wenn ich helfen … “
Harry bekam den Rest nicht mehr mit, da er bereits aufgelegt hatte.
Im Sitzungsraum des ersten Kommissariats war die kleine Ermittlungsgruppe vollzählig versammelt. Alle hatten ihre Jacken über die Stühle gehängt und ihre Tassen mitgebracht, während die Kaffeemaschine sprotzend eine zweite Kanne füllte. Skarre war gerade aus Bygdoy zurück. Er berichtete von dem Gespräch, das er mit Idar Vetlesens Mutter geführt hatte, die beteuerte, überhaupt nichts zu wissen, und das Ganze für ein ungeheures Missverständnis hielt.
Katrine hatte mit Vetlesens Sprechstundenhilfe, Borghild Moen, geredet, die sich ähnlich ausgedrückt hatte.
” Wir können sie morgen verhören, sollte das notwendig sein”, schlug Harry vor. “Im Moment haben wir, glaube ich, ein viel akuteres Problem.”
Die drei anderen sahen ihn an, während Harry kurz über das Telefonat mit Mathias berichtete und den Namen des Medikaments von der Rückseite des Straßenbahntickets ablas.
Weitere Kostenlose Bücher