Schneemann
Witwe machte dort zweimal pro Woche sauber. Das war mehr als genug, da die private, kleine Halle nur von einer Handvoll Männer genutzt wurde und es überdies keine Duschen gab. Sie schaltete das Licht ein. An den niedrigen Wänden hingen Trophäen, Diplome, Wimpel mit lateinischen Sprüchen und alte Schwarzweißfotografien von Männern mit Schnäuzern, Tweedjacken und würdevollen Mienen. Asta fand, dass sie komisch aussahen, ein bisschen wie die Fuchsjäger in diesen englischen Fernsehserien über die Oberklasse. Als sie durch die Tür der Halle trat, spürte sie an der Kälte, dass die letzten Gäste tags zuvor vergessen haben mussten, den Thermostat für die Eistemperatur höherzustellen, wie sie es sonst taten, um Strom zu sparen. Asta Johannessen schaltete das Licht ein, und während die Neonröhren blinkend zögerten, ob sie nun angehen wollten oder nicht, setzte sie die Brille auf, las am Thermostat für die Kühlkabel ab, dass er tatsächlich zu niedrig eingestellt war, und drehte ihn hoch.
Das Licht erhellte jetzt die graue Eisfläche. Durch die Gläser der Lesebrille gewahrte sie plötzlich etwas am anderen Ende der Halle. Sie setzte die Brille ab. Langsam stellte sich das Bild scharf. Ein Mensch? Sie wollte übers Eis laufen, zögerte jedoch. Asta Johannessen war alles andere als schreckhaft oder furchtsam, sie hatte aber Angst, sich eines Tages auf diesem Eis den Oberschenkelhals zu brechen und dort liegen zu bleiben, bis die Fuchsjäger sie fanden. Sie nahm einen der Besen, die an der Wand standen, und benutzte ihn als Stock, während sie mit Trippelschritten über das Eis balancierte.
Der leblose Mann lag am Ende der Bahn, den Kopf im Zentrum der Ringe. Das bläuliche Licht der Leuchtstoffröhren fiel auf sein Gesicht, das zu einer Grimasse erstarrt war. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Aus dem Fernsehen? Der gebrochene Blick schien hinter ihr, in weiter Ferne, nach etwas zu suchen. Die rechte Hand umklammerte verkrampft eine leere Spritze, doch die Ränder an der Innenseite des klaren Plastiks verrieten, dass sich zuvor eine rote Flüssigkeit darin befunden hatte.
Asta Johannessen kam zu der Erkenntnis, dass sie für diesen Mann nichts mehr tun konnte, und konzentrierte sich auf den Rückweg über das Eis.
Nachdem sie die Polizei angerufen hatte und die Beamten eingetroffen waren, ging sie heim und trank ihren Morgenkaffee.
Erst als sie zur Aftenposten griff, wurde ihr bewusst, wen sie da gefunden hatte.
Harry saß in der Hocke und starrte auf die Stiefel von Idar Vetlesen.
“Was sagt unser Gerichtsmediziner über den Todeszeitpunkt? “, fragte er Bjorn Holm, der in einer Jeansjacke mit weißem Teddyfutter neben ihm stand. Seine Schlangenlederstiefel machten fast kein Geräusch auf dem Kunsteis, während er von einem Bein aufs andere trat. Es war kaum eine Stunde vergangen, seit Asta Johannessen angerufen hatte, doch vor dem roten Absperrband, das die Polizei um die Curlinghalle gezogen hatte, drängten sich bereits die Reporter.
“Er meinte, das sei nicht so einfach festzulegen”, berichtete Holm. “Er kann nur schätzen, wie schnell die Temperatur in einem Körper sinkt, der auf Eis liegt, wenn die Raumtemperatur viel höher ist.”
“Aber hat er geschätzt?”
“Irgendwann zwischen fünf und sieben gestern Nachmittag.” “Hm. Also noch bevor die Nachrichten verkündet haben, dass
nach ihm gefahndet wird? Hast du das Schloss gesehen?”
Holm nickte. “Ein gewöhnliches Schnappschloss. Es war abgeschlossen, als die Putzfrau kam. Wie ich sehe, guckst du dir gerade die Stiefel an. Ich hab die Abdrücke überprüft. Ich bin ziemlich sicher, dass die mit den Abdrücken oben auf der Sollihogda übereinstimmen. “
Harry studierte das Muster des Profils. “Du meinst also, das ist unser Mann?”
“Ich nehme es stark an, ja.”
Harry nickte nachdenklich. “Weißt du, ob Vetlesen Linkshänder war?”
“Scheint mir nicht so. Wie du siehst, hat er die Spritze in der rechten Hand.”
Harry nickte. “Stimmt. Aber überprüf es trotzdem.”
Harry hatte sich noch nie so richtig freuen können, wenn Fälle, an denen er arbeitete, eines Tages aufgeklärt waren, gelöst, abgeschlossen. Solange in den Fällen ermittelt wurde, war das zwar sein Ziel, doch wenn er es erreicht hatte, wusste er nur, dass er wieder nicht angekommen war. Oder dass es nicht das Ziel war, das er sich vorgestellt hatte. Dass es sich plötzlich verändert hatte, oder dass er sich verändert hatte, was auch
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