Schneemond (German Edition)
Wissen um Ihre Wurzeln und ihrer Herkunft. Und doch musste sie mehr und mehr erkennen, dass diese Macht nicht mehr ausreichte, den Dunklen nieder zuringen und das Gleichgewicht der Kräfte wieder herzustellen.
Sie war allein. Allein und verlassen. Er hatte die sterblichen Hüllen ihre Gefährtinnen zerstört und dafür gesorgt, dass die einzelnen Blutlinien unterbrochen wurden. Und nun stand sie allein im letzten Gefecht, ganz alleine, wo Sieben stehen sollten. Und ihr Widerstand wurde schwächer.
Sie dachte an Lukas und Maria, die sie in der tobenden Finsternis schon längst verloren hatte. Sie dachte an ihre Mitstreiter, draußen in der realen Welt, die versuchten, ihr mit ihren Gebeten Kraft zu geben. Und sie dachte an all die Menschen, denen keine Wahl mehr bleiben würde, wenn sie versagte. Und langsam – ganz langsam – aber unaufhaltsam drang das Gift des Dunklen auch in ihr Herz.
Durch meine Schuld!
Und während der Sturm an Heftigkeit zunahm, flehte Theresa stumm um Vergebung für all die Seelen, die durch ihre Schuld auf ewig brennen würden. Und der stinkende Atem des Dunklen sickerte in die Träume der Menschen.
Alles verloren!
Lukas ließ sich fallen in den Abgrund aus Schmerz und Pein. Ließ sich fallen, in dem irrigen Glauben und der wahnsinnigen Hoffnung, dadurch dem Chaos entkommen zu können. Doch er wurde betrogen, wie er immer betrogen worden war. Und er hatte diesem Wahnsinn nichts mehr entgegen zu setzen.
Maria war nicht mehr bei ihm. Doch sie war ihm nicht nur genommen worden. Nein. Der Dunkle hatte ihre tiefe Verbindung zerrissen, wie man einer Fliege die Flügel ausreißt. Und zurück geblieben war eine Wunde in seiner Seele, wie der blutende, zerfetzte Stumpf eines abgerissenen Armes. Und er trieb weiter durch die Finsternis, unfähig gegen das Vergehen und Ausbluten anzukämpfen. Unfähig, sich eine freundliche und liebevolle Welt auch nur vorzustellen.
Alles verloren! Für immer!
Nein
Für immer und ewig! Alles zerstört!
Nein, glaub das nicht
Ganz langsam drängte sich ein kaum spürbarer Hauch von Wärme in Lukas’ vergiftete Gedanken.
Glaub das nicht, mein Freund
Leise, so unendlich leise – und doch war er da. Und für die kurze Zeitspanne eines Lidschlags vergaß Lukas sein Sterben und horchte zu.
Glaub das bloß nicht, mein Freund. Nichts ist verloren, solange es noch einen gibt, der das Licht in sich trägt.
Und während seines ewigen Sturzes in die tiefste Finsternis, beschloss Lukas der Stimme zu glauben – und ein Ruck ging durch die Welt.
Es ist das Eigenartige an Gedanken, dass gerade die beiläufigen, unscheinbaren und ungewollten es verstehen, sich Raum zu verschaffen. Die großen Gedanken, an denen wir arbeiten und die wir hegen und pflegen, entziehen sich uns und verschwimmen, verrauchen, lösen sich auf in Nichts. Doch dann kommt ein kleiner, kaum ausgereifter Gedanke und entschließt sich zum Bleiben. Und wir stehen davor und sehen ihm, verwirrt und verständnislos zu, wie er wächst und gedeiht, ohne unsere Hilfe, ohne unser Zutun. Doch gerade diese dahergelaufenen Gedanken sind es, die manchmal wahrhaft Großes bewirken.
Und Lukas nahm diesen einen, kleinen, unscheinbaren Gedanken bei sich auf.
Nein, glaub das nicht
Alles was ihm bisher wiederfahren war und auch jetzt noch wiederfuhr, bewies ihm, dass der Dunkle recht hatte. Er konnte es sehen, hören, schmecken, fühlen und riechen. Und doch, gegen jede Hoffnung und allen besseren Wissens, nahm Lukas diesen einen Gedanken bei sich auf.
Glaub das nicht
Plötzlich dachte er an Maria und der Schmerz über ihren Verlust donnerte auf ihn nieder, wie die Fluten einer riesigen Welle. Er hatte sie verloren und ohne Sie war sein Leben sinnlos, wertlos.
Glaub das nicht
Er konnte sie nicht mehr erreichen. Der Abgrund zwischen ihnen war zu groß, unüberwindbar, unüberbrückbar.
GLAUB DAS NICHT
Und Lukas dachte an die Wärme ihres Lächelns, an die Stärke ihrer Worte, an die Zartheit ihrer Berührungen – und an die Liebe in ihren Küssen.
Und plötzlich wollte er ihren Verlust nicht mehr hinnehmen. Endlich, nach so vielen Jahren voller Schmerz und Verzweiflung, hatte er sie gefunden. Er hatte sie gefunden und erkannt, dass sie – nur sie allein – der fehlende Stein im Gebäude seines Lebens war.
Und nun sollte er sie verlieren? Nein, das konnte nicht sein! Das
durfte
nicht sein!
MARIA
Er rief so laut, wie seine schwindenden Kräfte es zuließen.
MARIA. MARIA.
Immer wieder rief er ihren Namen in
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