Schneemond (German Edition)
lächelnd abwinkte.
»Mach ruhig, Söhnchen.«
Moore schaltete das Gerät ein und legte es auf den Tisch. Dann nahm er die Akten, schlug sie auf, zog einen Stift aus der Innentasche seines Jacketts und sah John Ukowa wieder an.
»Mr. Ukowa, Sie haben gestern Nachmittag die Leichen der beiden Frauen entdeckt und ihren Tod gemeldet, ist das richtig?«
»Ja, das ist richtig.«
»Erzählen Sie mir bitte davon.«
Das Gesicht des alten Indianers verfinsterte sich und er schloss für kurze Zeit die Augen. Als er sie schließlich wieder öffnete, war eine tiefe Traurigkeit darin.
»Ich habe Sie im Kampf fallen sehen, Söhnchen, in einem ungleichen Kampf, den sie nicht gewinnen konnten«, erklärte Ukowa mit einer Bitterkeit in der Stimme, die Moore total überraschte.
»Ich habe gesehen, wie er sie hinweggefegt hat, wie welkes Laub. Ich habe gesehen, wie er ihre Leben gebrochen hat, wie ein Kind einen dürren Zweig zerbricht. Ich habe gesehen, wie sich die Ahnin mit dem Mut der Verzweiflung ihrem Schicksal entgegengestemmt hat; wie eine Bärin, die ihre Jungen verteidigt. Vier Tage und vier Nächte hat sie gekämpft, nur um zuletzt doch zu verlieren.«
Moore war wie vor den Kopf geschlagen. Warum hatte Torrens nicht erwähnt, dass der alte Mann die Tat beobachtet hatte? Was zum Teufel ging hier eigentlich vor?
»Mr. Ukowa, wollen Sie mir damit sagen, dass Sie
gesehen
haben, wie die beiden Frauen umgebracht wurden?«
Ukowa blickte ihn traurig, aber fest an. »Ja, Söhnchen, das habe ich.«
»Warum, um alles in der Welt, haben Sie denn niemanden zu Hilfe geholt?«, wollte Moore wissen.
Ukowa schüttelte sanft den Kopf, als er leise erwiderte:
»Weil es niemanden
gibt
, der sie vor
ihm
hätte schützen können – und ich Angst hatte, er könnte mich da draußen in meinem Versteck entdecken.«
Moore konnte nicht genau sagen warum, jedoch hatte der letzte Satz des Alten seine Bestürzung, über die Erkenntnis, dass den beiden Frauen vielleicht hätte geholfen werden können, etwas besänftigt.
»Ich kann ja verstehen, dass Sie Angst um Ihr Leben hatten......«
Ukowa schnitt Moore mit einer fast wütenden Handbewegung das Wort ab. »Ich bin ein sehr alter Mann, Söhnchen«, sagte er mit fester Stimme. »Und ich habe viel Schönes, aber auch viel Schlimmes in meinem Leben gesehen. Ich bin ein Schamane meines Volkes und ich ehre das Leben
und
den Tod, denn das Eine zieht seinen Wert aus dem Anderen und beides ist ein Geschenk des großen Geistes. Ich fürchte mich nicht vor dem Leben und was es an Aufgaben noch für mich bereithalten mag. Ich fürchte aber auch den Tod nicht, Söhnchen, denn er ist der Beginn meiner großen Reise.«
Ukowa hielt inne und senkte den Blick. Schließlich atmete er tief ein, beugte sich zu Moore und sagte leise, aber deutlich und jedes Wort betonend.
»Aber, Samuel Moore, ich fürchte mich vor dem, was
dazwischen
liegt.«
Moore starrte aus dem Fenster seines Zimmers auf den See hinaus.
Gegen Abend war Ostwind aufgekommen und hatte auf die graue Fläche des Wassers weiße Schaumkronen gezaubert. Er lebte nun schon so lange an den Great Lakes und hatte doch noch nie bewusst diese Weite der Seen wahrgenommen. Man hatte fast den Eindruck, an der Küste eines Meeres zu stehen – genaugenommen waren die großen Seen ja Binnenmeere. Er war ein Mensch, der gegenüber den Schönheiten der Natur sehr aufgeschlossen war – gerade weil er die meiste Zeit seines Lebens in der Stadt verbrachte. Er hatte nie verstehen können, wie sich Menschen vor der freien Natur ängstigen konnten, wenngleich er natürlich um die Gefahren in der Wildnis und die Unfähigkeit des
zivilisierten
Menschen, diese Gefahren zu meistern, wusste.
Doch heute, nach diesem Gespräch mit John Ukowa, kam er sich beim Anblick dieser schier unendlichen Weite klein und verloren vor, fast als hätten sich die natürlichen Proportionen verzerrt – verschoben.
Was wissen wir wirklich von dieser Welt
?, fragte er sich. Was wissen wir wirklich über
uns
?
Ukowa hatte ihn auf eine Weise verunsichert, fast
verstört
, die ihm bisher völlig unbekannt gewesen war. Der alte Mann hatte all seine Raster und Schablonen verbogen und verdreht und hatte ihn auf eine sehr beunruhigende Art hilflos gemacht.
Moore hatte sich schon sehr viele Lügen und fantastischen Geschichten anhören müssen – das brachte seine Arbeit als Psychologe nun mal mit sich. Doch er hatte bisher geglaubt
seinen
Standpunkt in der realen Welt zu kennen. Ein
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