Schneenockerleklat
von wo er gerade
gekommen war.
Zu verdanken hatte er diese exzellente Verbindung dem
Entgegenkommen des äußerst flexiblen Bahnhofvorstands, der nach kurzer
Intervention des Zugsführers des Crime Express den gleich danach durchfahrenden
Eurocity von Venedig nach Wien zu einem außertourlichen Halt veranlasst hatte.
*
Schon früher am Abend, etwa zu der Zeit, als
Palinski fassungslos vor der Leiche des verblichenen István Lalas gestanden
war, war gute 50 Kilometer südwestlich davon Anton Bleichweier bei Carlo
Montebello in der Stanz eingetroffen.
Der 51-jährige gebürtige Grazer lebte bereits seit mehr als
20 Jahren im Mürztal, nur wenige Kilometer von Carlo Montebello entfernt, und
bedeutete für diesen Adlatus, Freund, Pfleger, Familie und Publikum. Und das
seit mehr als acht Jahren. Toni ging keinem regelmäßigen Beruf nach, verdiente
aber mit seinen gelegentlichen Jobs gar nicht schlecht. Dazu kamen noch die
monatlichen Zuwendungen Montebellos für treue Dienste.
Ohne Vollbart, einer circa drei Zentimeter langen Narbe am Kinn,
die nun zu sehen war, und mit dunkler Brille hatte Montebello, der im Gegensatz
zur ländlich inspirierten Kleidung Karls einen eleganten dreiteiligen Maßanzug
trug, inzwischen auch optisch Abschied vom früheren Schönberg genommen.
Bloß die kaputten Beine waren dieselben geblieben.
Daher hatte sich auch an seinem etwas unsicheren, zeppelnden Gang nichts
geändert, und der schöne alte Gehstock mit dem Silberknauf war weiter mit von
der Partie.
Als zusätzliches, sowohl der Tarnung als auch praktischen
Überlegungen dienendes Requisit kam an dieser Stelle noch ein Rollstuhl ins
Spiel. Das gute Stück, ein wahres Hightech-Wunder, hatte sich in der
Vergangenheit bereits bestens bewährt.
Montebello, der vor dem Hause bereits auf Toni gewartet
hatte, umarmte den Freund und küsste ihn. Auf beide Wangen, wie das im Süden
eben so üblich war. Und nicht nur dort.
Dann nahm er mit einer für sein Alter erstaunlichen
akrobatischen Leistung auf dem Beifahrersitz von Tonis koreanischem Kleinwagen
Platz.
Nachdem Carlos Gepäck im Wagen und der Rollstuhl auf einem
speziell dafür vorgesehenen Anhänger verstaut worden war, ging es los.
Carlo riskierte einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett.
Die Zeit drängte etwas, denn der Zug wartete nicht. Der Weg in die Stadt war
weit, und er musste noch heute Nacht beginnen, in seine neue Biografie zu
schlüpfen. Seine Metamorphose musste bis morgen abgeschlossen sein, wurde er
doch bereits nachmittags am Ort seines nächsten Wirkens erwartet.
Und überhaupt,
heute hatte Carlo noch eine Menge vor.
*
Kaum hatte Palinski den speziell für ihn
angehaltenen EC Campanile di San Marco bestiegen, als die elegante
Triebwagengarnitur auch schon wieder anfuhr. Er konnte sich gerade noch
umdrehen, um dem freundlichen Stationsvorstand ein von Herzen kommendes
Dankeschön zuzuwinken. Dann ging es auch schon wieder hinein in diverse Tunnel
und hinunter über die von Karl Ritter von Ghega vor mehr als 150 Jahren
schwindelerregend in die wilde Berglandschaft hineingesetzten Viadukte, die bis
heute nichts von ihrer Imposanz eingebüßt hatten.
Palinski wollte die 80 Minuten bis Wien für ein kurzes
Nickerchen nutzen. Erstens war er redlich müde, in den vergangenen Wochen hatte
sich einiger Nachholbedarf an Schlaf angesammelt. Und zweitens würde die
heutige Nacht mit Sicherheit sehr, sehr lange werden, musste er nach diesem
leidigen Familientreffen doch wieder auf den Semmering zurückfahren.
Im Grunde genommen war ihm das Schicksal von Wilmas Cousin
schnurzegal, er hatte den Kerl noch nie leiden können.
Andererseits war das natürlich keine politisch korrekte
Position und daher auch nicht öffentlichkeitsfähig.
Vor allem aber musste er achtgeben, dass er sich nicht
blamierte. Immerhin war er der Kriminologe in der Familie, in der mindestens
die Hälfte ihrer Mitglieder allerdings nichts sehnlicher erwartete, als dass es
ihn einmal kräftig auf die Goschn haute.
Endlich hatte Palinski in einem der offenen
Erste-Klasse-Wägen eine Vierer-Sitzgruppe entdeckt, die völlig unbesetzt war.
Kurz entschlossen machte er es sich auf dem Fensterplatz in Fahrtrichtung
bequem. Hinter ihm saß ein älteres Ehepaar mit zwei kleinen Kindern, offenbar
Großeltern mit ihren Enkerln.
Auf den Fensterplätzen gegenüber saßen zwei Männer, der
ältere der beiden schien so Mitte der 60 zu sein,
Weitere Kostenlose Bücher