Schneenockerleklat
Abfahrt von Wien vor inzwischen mehr
als drei Stunden nicht telefoniert und auch keinen Anruf erhalten hatte.
*
Einige Minuten zuvor:
Wilma Bachler, Palinskis Lebensgefährtin und Mutter der zwei
Kinder der beiden, war inzwischen leicht verzweifelt. In wenig mehr als einer
halben Stunde sollte jenes Treffen seinen Anfang nehmen, auf dem die Familie
ihre Solidarität mit Tante Anita, der Mutter des entführten Cousins Albert, in
Wort und Tat beweisen wollte.
Dabei handelte es sich zweifellos um eines der wichtigsten
Zusammentreffen der Familie überhaupt, mit Sicherheit aber um das
dramatischste. Denn Entführung mit nachfolgender Lösegeldforderung, das hatte
es zumindest zu Lebzeiten Wilmas in dieser Familie noch nicht gegeben.
Nun war ihr Herzibinki Mario nicht gerade die erste Wahl
ihrer Eltern gewesen. Entsprechend heftig war auch der Widerstand der Familie
gegen ihren Mann gewesen. Und obwohl es ihm mit den Jahren gelungen war, den
Respekt seiner Nicht-Schwiegereltern und damit auch etwas ihrer Sympathie zu
erringen, musste Palinski auch heute noch immer gegen gewisse Ressentiments
ankämpfen.
In der schrecklichen Geschichte, deretwegen sich die
Verwandtschaft heute Abend traf, sah Wilma eine gute Chance für Mario, seine
Kompetenz in solchen Fragen zu beweisen und damit gleichzeitig auch seine
Position im Familienverband zu verbessern.
Bloß, bis jetzt war es ihr noch nicht mal gelungen, den Mann
ihres Herzens über das aktuelle Geschehen zu informieren, geschweige denn, ihn
zu bitten, an dem abendlichen Treffen teilzunehmen.
Sie wusste, er hatte wahnsinnig viel um die Ohren. Gerade
heute, am Tag, an dem die Gäste am Semmering eintrafen, war ihr Anliegen eine
echte Zumutung. Hatte er doch monatelang für diese Veranstaltung geackert wie
ein Blöder.
Andererseits lag eine Ausnahmesituation vor. Immerhin wurde
nicht jeden Tag ein Familienmitglied entführt. Sie konnte sich nur zu gut das
dumme Gerede der Tanten und Onkel, das Jammern Anitas und die seltsamen Blicke
ihrer Eltern vorstellen, wenn sie Mario unter Hinweis auf diese Jahresversammlung
zu entschuldigen versuchte.
Was sollte sie tun? Wie immer sie die Sache auch anging, war
es falsch. Das war eine typische No-win-Situation.
Gut, dann sollte das Schicksal entscheiden. Sie wollte erneut
versuchen, Palinski zu erreichen, dann war Schluss. Zumindest für heute.
Fast lustlos tippte sie auf die Wahlwiederholung und nahm das
Handy ans Ohr.
*
Judith saß neben ihrem scheinbar in einen
kataleptischen Schock verfallenen Chef und versuchte, ihn zu irgendeiner
Lebensäußerung zu veranlassen. Vergebens, Palinski war völlig erstarrt,
lediglich seine lebhaft hin und her rollenden Augen sowie das nervös zuckende
linke Lid waren Indiz dafür, dass er noch unter den Lebenden weilte.
Nach etwa fünf Minuten normalisierte sich sein Verhalten
wieder völlig. Er drehte sich zu seiner Assistentin, blickte ihr verträumt in
die hübschen graublauen Augen und sagte nur: »Na gut, was sein muss, muss
sein!«
Die junge Frau überlegte schon, ob sie jetzt aufspringen und
rennen oder die Augen schließen und stillhalten sollte, aber Palinski nahm ihr
diese Entscheidung ab. Ganz einfach, indem er aufstand. »Sag Florian, dass ich
nochmals nach Wien muss. Wegen einer äußerst dringenden Familienangelegenheit,
die sich in den letzten Stunden zugespitzt hat!«, wies er sie an. »Ich werde so
schnell wie möglich wieder zurück sein. Er soll inzwischen übernehmen!« Er
wandte sich zum Gehen. »So, jetzt muss ich noch Sir Swanhouse verarzten. Dem
werde ich aber einen Schmäh erzählen. Denn die Wahrheit wird der mir sicher
nicht glauben!« Er schüttelte den Kopf. »Würde ich an seiner Stelle auch nicht.
Na, der Sir wird eine Freude haben!«
Dann entschloss er sich aber doch für die Wahrheit. Warum
sollte der stellvertretende Chef von Scotland Yard kein Verständnis dafür
haben, dass Palinski der Familie in einer derartigen Ausnahmesituation
beistand.
Und sollte der Sir das wirklich nicht verstehen, na gut, dann
konnte es Palinski eben auch nicht ändern.
Um 19.28 Uhr erreichte der Crime Express den
Bahnhof Semmering. Während die angekommenen Gäste zu den flotten
Willkommensklängen der Musikkapelle der FF Mürzzuschlag den Zug verließen, das
Willkommensschnapserl schlürften und langsam ihre Plätze in den Pferdeschlitten
einnahmen, war Palinski schon wieder unterwegs. Richtung dorthin,
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